Dienstag, 11. März 2008

IPv6 als Argument für die Abschaffung der "Netzneutralität"?

Zeit.de berichtet über das Thema "Netzneutralität". Obwohl... "berichtet", ist zu viel gesagt.

Es ist ein Artikel voller Merkwürdigkeiten.

Ein Auszug:

Für diese sogenannte Netzneutralität sorgt seit 35 Jahren das Internet-Protokoll Version 4, kurz IPv4. Jetzt mehren sich die Gründe für eine Erneuerung der bewährten Datenverkehrsregeln. [...] Sogenannte Echtzeitanwendungen – also digitalisierte Telefongespräche, Video-Streaming, Internet-Radio oder Fernsehen – fangen dagegen schon beim Verlust weniger Datenpakete und kurzen Verzögerungen an zu ruckeln oder brechen gleich völlig zusammen. Und spätestens seit dem Boom von Video-Plattformen wie Youtube oder Myspace sorgen Echtzeitanwendungen für den Großteil des Datenverkehrs im Internet. (Quelle: Zeit.de)


Äh, Moment. YouTube sei eine Echtzeitanwendung? Nein, so behauptet das der Artikel natürlich nicht. Das wäre ja auch allergrößter Schwachsinn. Aber der Artikel legt diese Interpretation nahe. Warum?

Interessant auch der Dreh, IPv6 als vermeintliches Argument gegen die Netzneutralität ins Feld zu führen - allerdings wieder nicht wortwörtlich - der vermeintliche Zusammenhang wird wieder nur angedeutet. Warum?

IPv6 mag die Bevorzugung zeitkritischer Datendienste ermöglichen, aber genau dies wäre ja ein Argument für die Beibehaltung der Netzneutralität. Denn unter der Abschaffung der Netzneutralität wurde meines Wissens nach bislang immer verstanden, dass Anbieter von Internetinhalten, die großen Datenverkehr verursachen, von den Telekom-Unternehmen extra zur Kasse gebeten werden sollten (mehr dazu beispielsweise bei Wikipedia.org). IPv6 würde es zwar den Telekomkonzernen technisch erleichtern, bestimmte Inhalteanbieter quasi zu erpressen nach dem Motto: Wenn ihr nicht mehr zahlt, drosseln wir eure Daten.

Der technische Sinn von IPv6 liegt jedoch nicht in der Schaffung der Möglichkeit von Zensur, sondern vor allem in der Effizienzsteigerung des Datenverkehrs. Die technischen Möglichkeiten von IPv6 könnten also die von manchen Telekomkonzernen erträumte "Extra-Maut" gerade unnötig machen, weil das Protokoll vorhandene Ressourcen intelligenter ausschöpft und bei den Telekom-Unternehmen so Ressourcen einsparen hilft. Mehr dazu beispielsweise in diesem Artikel von Felix von Leitner.

Dass die Telekom-Unternehmen natürlich nach jeder Möglichkeit suchen Geld abzuschöpfen, ist klar. Dass sich Journalisten mit solch ungenauen Artikeln indirekt vor ihren Karren spannen lassen, ist unerfreulich.

IPv6 ist also kein Argument für die Aufgabe des Prinzips der Netzneutralität. Eher im Gegenteil.

Auch die Mär von der armen Deutschen Telekom, die am Hungertuch nagt, weil sie ja ganz selbstlos ein schnelles, neues VDSL-Netz aufbaut, klingt im Zeit.de-Artikel an. Ja, wir sollten alle sammeln gehen, um Geld für die Telekom zu spenden, weil die aus lauter Großherzigkeit ihr Netz ausbaut. Die Bundesregierung hat sogar ein extra Gesetz erlassen, um die Deutsche Telekom beim Ausbau des VDSL-Netzes vor der Konkurrenz zu beschützen. Die EU zerrt die Bundesregierung deshalb sogar gerade vors Gericht, weil die EU hier extreme Nachteile für die deutschen Verbraucher wittert - von dieser Auseinandersetzung steht im Zeit.de-Artikel merkwürdigerweise kein Wort. Warum?

Ob die Blockade von VoIP-Funktionen in den UMTS-Netzen mit IPv6 zu tun hat, wie dies der Artikel wiederum nahe legt, wage ich auch sehr zu bezweifeln. Hier wurde bislang meines Wissens nach über die Internet-Gateways der Mobilfunkbetreiber schlicht SIP blockiert. Deswegen funktionierte beispielsweise Skype bislang auch in UMTS-Netzen, weil Skype nicht SIP verwendet. Wer mehr dazu weiß, darf mich natürlich gerne in den Kommentaren klüger machen.

Fazit: Die technischen Zusammenhänge werden falsch oder ungenau wiedergegeben im Artikel. Die politischen Folgen einer Störung der Netzneutralität werden kaum behandelt. Stattdessen wird angedeutet, IPv6 sei irgendwie ein Argument, die Netzneutralität aufzugeben. Dass die Telekom-Konzerne nachweislich nicht unter einem immensen Konkurrenzdruck leiden, der sie ausbluten lässt, sondern eher die Verbraucher an immer noch starken Monopolstrukturen und überteuerten Preisen leiden, auch darüber erfährt man im Artikel nichts, obwohl das Thema "Netzneutralität" ja als vermeintliche Gefahr für den Gewinn der Telekomkonzerne im Artikel geschildert wird.

Es wird sicherlich interessant sein zu beobachten, ob weitere Artikel in den Medien auftauchen, in denen IPv6 als angebliches Argument für die Abschaffung der Netzneutralität eingespannt wird.

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