Polizeichefs attackieren jetzt auch mit neuen Überwachungsforderungen das Grundgesetz
Eigentlich hatte ich vor, auch noch einen Artikel zu schreiben über die unmöglichen Antworten, die die Bundesregierung auf eine kleine, parlamentarische Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zur sogenannten "Quellen-Telekommunikationsüberwachung" gegeben hatte. Ich wollte mich aufregen darüber, dass die Bundesregierung es für völlig okay hält, wenn Polizeibeamte zum Zwecke der Überwachung von verschlüsselten Voice-over-IP-Telefongesprächen einfach heimlich in die Wohnung von Verdächtigen eindringen und dass dieses Eindringen angeblich mit der vom Gesetz garantierten "Unverletztlichkeit der Wohnung" nichts zu tun habe. So als ob die Beamten sich von der Wohnungstür direkt zum Computer teleportieren könnten, wie Kai Raven so trefflich schreibt, und nicht nach links und rechts schauen würden in der Wohnung und nur schnell die Schnüffelsoftware auf dem Computer installieren würden und das war's.
Dieses Spiel mit Interpretationen darüber, was die Unverletzlichkeit der Wohnung ist, ist zutiefst unwürdig für eine Regierung, die angeblich die Freiheitsrechte seiner Bürger schützen will. Entweder Sex oder kein Sex, entweder man betritt die Wohnung heimlich und verletzt dabei die Grenzen und Rechte des Wohnungsinhabers, oder man bleibt draußen. Wenn das kein Beispiel für das von George Orwell beschriebene "Zwiedenken" ist, dann weiß ich auch nicht. Verrückter als dieses Verdrehen einfacher Wahrheiten durch die Bundesregierung ist höchstens noch das - wie immer - lärmende Schweigen und stumme Echo, das derartige Äußerungen der Bundesregierung in den deutschen Medien hervorruft. Da muss der aufmerksame Beobachter doch zu dem Schluss kommen, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
Aber bevor man sich noch über die eine Sache richtig aufregen kann, folgt schon der nächste Klopper. Dieses Mal ausnahmsweise nicht von Schäuble und Merkel, sondern von den höchsten Polizeichefs Deutschlands.
So sollen die Chefs der deutschen Landeskriminalämter und natürlich Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamtes, nun auch den sogenannten "Großen Spähangriff" auf Wohnungen, sprich heimliche Videokameras in Wohnungen, gefordert haben, sowie auch die präventive Telefonüberwachung von Leuten, die noch überhaupt gar keiner Tat verdächtigt werden. Außerdem soll ihrer Meinung nach die Überwachung von Internetcafés intensiviert werden und der Einsatz von W-Lan-Catchern bundesweit möglich werden.
Spiegel.de berichtet über einen Bericht, der ab Montag in der Tote-Holz-Ausgabe vom Spiegel zu lesen sein wird.
Die Polizeichefs verlassen mit ihren Vorschlägen natürlich ganz klar den Boden des Grundgesetzes. Um das festzustellen, reicht es schon, die Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgericht zum "Großen Lauschangriff" zu kennen. Liest man die, wird auch deutlich, dass auch eine Änderung oder Erweiterung des Grundgesetzes kaum dazu führen kann, einen "Großen Spähangriff" zu realisieren, denn in jedem Fall wäre bei einem Großen Spähangriff noch mehr als beim Großen Lauschangriff die Würde des Menschen bedroht. Die ist jedoch als oberstes zu schützendes Gut im Artikel 1 des Grundgesetzes unabänderlich festgezurrt.
Natürlich könnte man das Grundgesetz als Ganzes abschaffen. Und genau darauf zielen meiner Meinung nach letztlich die diversen Vorstöße von bestimmten Ministern der Bundes- und Länderregierungen und von bestimmten Behördenchefs ab. Michael Stolleis hat es in einem Artikel bei Online-Merkur.de trefflich beschrieben, wie die neue Doktrin von einem angeblichen "Grundrecht auf Sicherheit" darauf abzielt den freiheitlichen Rechtsstaat letztlich abzuschaffen. Wir leben also in immer gefährlicher werdenden Zeiten. Und zwar nicht wegen irgendeines Terrorismus von Außen, sondern wegen eines Terrorismus von Innen, aus dem "Apparat" heraus. Hier wird mit dem Feuer gespielt. Und das Feuer haben nicht die Bürger, die für Freiheitsrechte und Rechtsstaat und Datenschutz einstehen, angezündet.
Geschichte wiederholt sich also. Wie bei der Weimarer Republik wird der Staat als zu schwach dargestellt und als hilflos dargestellt von den Feinden der Demokratie - einhergehend mit der Forderung, Rechtsstaat und Demokratie abzuschaffen, um angebliche Sicherheit herzustellen.
Das ganz praktische Problem bei den nun von den Polizeichefs geforderten Überwachungsbefugnissen lautet: Jeder normale Bürger kann sehr schnell durch dumme Zufälle oder übertriebenes Vorgehen der Behörden in ein Netz von Verdächtigungen geraten und müsste dann nach den Plänen dieser "ehrenwerten" Herren einen umfassenden Angriff auf seine persönliche Integrität, sein Selbstbild, seine Würde, sprich auf das, was ihn als Menschen ausmacht, hinnehmen. Man könnte auch von einer Folter durch Überwachung sprechen, deren traumatische Wirkung dann voll zur Entfaltung käme, wenn der Verdächtige erfährt, dass der Staat wochenlang oder gar monatelang in jede seiner Poren geblickt hat.
Worin bestünde noch der Unterschied zwischen einem Leben in einer voll überwachten Wohnung und dem Leben in einer Gefängniszelle? Ach, richtig: in der Gefängniszelle hat man mehr Privatsphäre und mehr Rechte. Man weiß da nämlich zumindest um seine Situation und kann anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen und sich aktiv gegen seine Situation wehren. Wohl dem, der also schnell eingesperrt wird und wehe dem, gegen den nur schwache Verdächtigungen vorliegen und der deshalb über Monate heimlich intensiv überwacht wird, um so handfestere Beweise gegen ihn zu sammeln.
Weil nach der Einführung derartiger Überwachungsmethoden die tatsächliche Schwellenhöhe für den Einsatz der Methoden anschließend erheblichen Schwankungen unterliegt (man beachte nur den exorbitanten Anstieg der Telefonüberwachungen in Deutschland in den letzten zehn Jahren), wird alleine die Existenz der Möglichkeit, dass der Staat Bürgern jeglichen Rückzugsraum, jegliche Privatsphäre entziehen kann, schweren Schaden im Verhältnis normaler Bürger zu ihrem Staat anrichten.
Denn Privatsphäre ist kein Luxus, sondern sie ist eine wesentliche Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben. Sie ist eine wesentliche Bedingung dafür, dass ich mich als autonomes Wesen erlebe. Sie ist die Bedingung, dass ich mir selbst gegenüber und anderen Menschen gegenüber ein bestimmtes Bild meiner Person aufbauen kann. Ein Mensch, der beständig in der Öffentlichkeit steht oder sich beständig überwacht wähnt (er braucht noch nicht einmal tatsächlich überwacht zu werden!), entwickelt langfristig ganz unzweifelhaft psychische Störungen, weil er keine Kontrolle mehr hat über einen wichtigen Teil seines Lebens, oder weil er meint, darüber keine Kontrolle mehr zu haben. Psychologen wissen, dass die eigene Identität von jedem Menschen aktiv hergestellt wird. Identität ist nicht einfach da, sie wird konstruiert. Eine selbstbestimmte Identität kann nur aufgebaut werden, wenn man auch die Macht über die Grenzen seiner Privatsphäre hat. Das erlebt spätestens jeder Mensch als heranwachsender Jugendlicher und das erzeugt unter anderem die bekannten Spannungen zwischen Kindern und Eltern. Wenn Teenager also anfangen, ihre Privatsphäre und ihre Identität unabhängig von den Eltern zu bestimmen. Privatsphäre macht das Erwachsensein, sprich das selbstbestimmte Leben aus und damit einen Großteil der Würde jedes Menschen.
Wer derartige Vorschläge macht wie unsere Polizeichefs, den fordere ich schlicht auf wegen seiner Ignoranz gegenüber der Wichtigkeit der Privatsphäre fürs Menschsein doch einfach einmal umzuziehen in den Zoo und sich wie die Affen in eine Unterkunft mit einer großen Glaswand an einer Wandseite einquartieren zu lassen, durch die dann alle Zoobesucher einen beim Wohnen und Leben zugucken können. Vielleicht wird ihm dann die Bedeutung der Privatsphäre als Fundament einer freiheitlichen Gesellschaft deutlicher.
Was für ein furchtbares Land, in dem Polizeichefs, vermutlich ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, derartige Vorschläge machen!
Das wirklich Schlimme ist aus meiner Sicht, dass diese Vorschläge überhaupt gemacht wurden. So als ob die Polizeichfes nicht wüssten, dass ihre Vorschläge niemals am Bundesverfassungsgericht vorbei kämen. Diese Vorschläge sind also die pure Provokation. Ich befürchte, dass genau diese Provokation gewollt ist. Dass es also gar nicht wirklich um die Realisierung der vorgeschlagenen neuen Polizeibefugnisse geht (weil utopisch vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff), sondern dass die Provokation selbst das eigentliche Ziel ist.
Vielleicht wollen die Polizeichefs bewusst das Vertrauen der Bürger in die Polizei unterminieren. Ich befürchte, dass hier eine ganz bewusste Strategie der Destabilisierung des Staates verfolgt wird - vielleicht mit Rückendeckung einiger Unions-Minister.
Der Bürger wird sich wegen dieser haltlosen Forderungen nach immer mehr Überwachung und immer weitergehenden Polizeibefugnissen nicht sicherer fühlen. Im Gegenteil. Meine Eltern beispielsweise wollen das gar nicht hören, wenn ich ihnen mal wieder eines dieser Beispiele erzähle, bei denen die Polizei über die Stränge schlug. So wie neulich in Bayern, als ein Sondereinsatzkommando das Haus einer Familie stürmte, weil die Polizei aufgrund vager Gerüchte gehört hatte, dass der Familienvater eventuell für einen Farbklecks am Geburtshaus des Papstes verantwortlich sein könnte. Es schaudert meine Eltern. Man merkt ihnen ihre Angst an.
Das Spiel geht also wie folgt: Die Bürger fühlen sich durch die Reden und Taten unserer Sicherheitsbehörden und "Sicherheits"-Politiker verunsichert. Diese Verunsicherung wird dann sogleich jedoch paradoxerweise wieder zum Kraftstoff für die Unterstützung noch weitergehender Befugnisse für die Sicherheitsbehörden. Ein sich selbst verstärkender Kreis, an dessem Ende die weitgehende Abschaffung bürgerlicher Freiheitsrechte steht. Hier zeigt sich ein Mechanismus, durch den sich eine Demokratie mit tatwilliger Unterstützung großer Bevölkerungsmehrheiten selbst abschafft.
Die verrückten Vorschläge der Polizeichefs sollten also spätestens jetzt all diejenigen aufrütteln, die bislang immer noch dachten, dass das Tamtam um Bundestrojaner und Vorratsdatenspeicherung und um Schäubles Vorschläge und Aussagen zur präventiven Tötung von Verdächtigen oder zur angeblichen Unausweichlichkeit von Guantanamo und all die anderen Vorschläge nur ein parteipolitisches Profilierungsspielchen war.
Es geht also bei der Frage um mehr Befugnisse für Polizei und Geheimdienste um nichts weniger als die Zukunft der Demokratie in Deutschland.
Nachtrag: (Via Antiterror.Blog.de) Das Bundeskriminalamt fordert jetzt wohl auch noch zusätzlich zum oben dargestellten Maßnahmenkatalog die heimliche Wohnungsdurchsuchung, wie Taz.de berichtet:
Stellen Sie sich vor, Sie kommen nach Hause. Der Sessel scheint aber nicht genau da zu stehen, wo er immer steht. Und die Zahnbürste liegt links vom Zahnputzbecher statt wie üblich rechts. War da etwa jemand in der Wohnung? Bisher konnte man ausschließen, dass die Polizei heimlich die Wohnung durchsucht hat [...]. Die Argumente für die heimliche Durchsuchung sind die gleichen wie für die geplante heimliche Ausspähung von Computer-Festplatten. Man würde gerne sofort wissen, was in der Wohnung zu finden ist, ohne aber den Verdächtigen und seine möglichen Hintermänner bereits zu warnen. Und wenn die Polizei sogar bald via Spionagesoftware auf Computer in der Wohnung zugreifen kann, warum sollte sie dann nicht erst recht mit einem Dietrich in die Räume eindringen und mal in den Schreibtisch und unters Bett schauen dürfen. Schließlich ist so ein Einbruch technisch ja viel einfacher. (Quelle: Taz.de)
Diese letzte Forderung komplettiert das Bild, das schon durch die weiter oben erwähnten Vorschläge sichtbar wurde. Die unrechtsstaatliche, undemokratische Einstellung der deutschen Polizeichefs kann kaum mehr überdeckt werden. Eigentlich wäre die sofortige Entlassung bis spätestens Montag Mittag fällig - aber die Vorschläge folgen ja der inhaltlichen Linie bestimmter einflussreicher Politiker in Deutschland. Ich kann mir jedoch keinen Bürger mit Restverstand vorstellen, der derartige Polizeibefugnisse begrüßen würde.
Die Vorschläge der Polizeichefs stellen eine gefährliche Eskalationsstufe dar. Man kann nur hoffen, dass sich dadurch bestimmte Hitzköpfe nicht provozieren lassen. Denn genau solch eine Wirkungsweise dieser polizeilichen Provokationen könnte manchem politischen Hasardeur nicht unwillkommen sein. Der Rest der vernunftbegabten Politiker sollte aufpassen, dass ihnen die Situation nicht entgleitet, falls Teile der Politik sich die unverantwortlichen Vorschläge der Polizeichefs zu eigen machen sollten.
Technorati-Tags: BKA, LKA, Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt, Jörg Ziercke, Schäuble, Großer Spähangriff, Telefonüberwachung, W-Lan-Catcher