Sonntag, 11. Februar 2007

Rätsel Autismus

Seit kurzem zirkuliert ein wirklich sehr interessantes YouTube-Video einer Autistin in der internationalen und nun auch deutschen Blogosphäre: In My Language.

"Silentmiaow", wie die Autistin sich nennt, führt in dem Video vor, wie sie mit ihrer Umwelt in ihrer "natürlichen Sprache", wie sie es nennt, kommuniziert. Sie interagiert mit diversen Gegenständen, bewegt sie, betastet sie, riecht an ihnen, entlockt ihnen Geräusche und lässt sich faszinieren von den verschiedenen Sinneseindrücken, die die Umwelt für sie bereithält. Dazu summt sie leise vor sich hin. Für Außenstehende ein äußerst befremdliches Verhalten.

Autisten verhalten sich häufig so und erscheinen nicht fähig, mit einem zu kommunizieren. Sie scheinen nicht auf Ansprache zu reagieren. Sie scheinen in einer abgekapselten Welt zu leben. Vor allem Eltern autistischer Kinder leiden enorm darunter. Medizin und Psychologie versuchten und versuchen weiterhin, die "Mauer", die den Autisten zu umgeben scheint, zu durchbrechen. Mit den unterschiedlichsten Therapieansätzen und auch mit Medikamenten. Mit manchmal mehr, manchmal weniger Erfolg und manchmal anscheinend verheerender Wirkung für die Psyche der Autisten.

Im zweiten Teil des Videos erklärt Silentmiaow dann mit Hilfe eines Sprachcomputers, was ihre Bewegungen und ihr Gesumme im Video soll. Sie schildert eloquent, dass das ihre Art ist, mit ihrer Umwelt umzugehen, mit ihr zu interagieren, dass die Dinge und Sinneseindrücke sie einfach faszinieren würden und dies ihre Art sei mit diesen Sinneseindrücken zu befassen und die Sinneseindrücke zu lenken und auszukosten oder zu verstehen. Dank des Sprachcomputers ist sie also in der Lage, sich auch "ganz normal" zu unterhalten. Man versteht, dass Silentmiaow kein "Freak" ist. Dass sie intelligent ist.

Bei vielen scheint dieses Video deshalb "wie eine Bombe" eingeschlagen zu haben. Man sieht das an den unfassbar vielen Kommentaren auf Youtube zu ihrem Video. Viele schreiben, dass es ihnen die Augen geöffnet habe, dass Autisten ja gar nicht "dumm" seien oder unfähig zu kommunizieren.

Silentmiaow ist Teil einer neuen Bewegung von Autisten, die gesellschaftlich aktiv ist um darzustellen, dass ihre Art des Fühlens, Denkens und der Interaktion mit ihrer Umwelt nicht krankhaft ist und geheilt werden müsse, sondern einfach nur andersartig sei.

In einem langen Kommentar bei Metafilter.com erläutert Silentmiaow auch eine aktuelle wissenschaftliche Theorie zum Autismus (Enhanced Perceptual Functioning in Autism von
Professor Laurent Mottron, et al.). Die Theorie von Mottron und anderen geht davon aus, dass Autisten in der Lage sind, die Umwelt direkter wahrzunehmen als wir "normalen" Menschen. Normalerweise filtert unser Gehirn automatisch all die vielen Sinneseindrücke heraus, die von den Sinnesorganen ans Gehirn geschickt werden. So können wir uns zum Beispiel auf einer Party trotz des Hintergrundlärms auf ein Gespräch mit unserem Gegenüber konzentrieren. Wird jedoch irgendwo unser Name gerufen, schrecken wir plötzlich auf. Was beweist, dass die Sinneseindrücke, hier also der ganze Krach im Raum, eben nicht einfach weg sind, sondern im Gehirn ankommen und auch verarbeitet werden, aber vom Gehirn vor unserem Bewusstsein verborgen werden, bis ein relevanter Reiz auftaucht. Man vermutet nun, dass bei Autisten dieser Filter nicht oder anders funktioniert oder Autisten den Filter direkter beeinflussen können als wir Nicht-Autisten.

Weitere Informationen über den Kampf der Autisten gegen den gesellschaftlichen Zwang, sich ändern und mit Hilfe von Therapien oder Medikamenten an die Mehrheit anpassen zu müssen, erhält man auch in einer absolut exzellenten Folge der Radiosendung "Quirks & Quarks" vom kanadischen Sender CBC, in der die Arbeit von Mottron und der Autistin Michelle Dawson dargestellt wird: Rethinking Autism. "Quirks & Quarks" ist eine Wissenschaftssendung. Jede Woche werden entweder Zuschauerfragen beantwortet oder Forscher direkt zu neuen, interessanten Forschungsergebnissen interviewt. Wie sich das für einen ordentlichen Sender gehört, gibt es die Folgen zum Autismus auch Wochen nach der Ausstrahlung noch herunterzuladen als MP3-Datei und als OGG-Datei. Und natürlich gibt es die ganze Sendung "Quirks & Quarks" auch als wöchentlichen Podcast. Es ist einer der vier, fünf Podcasts, die ich regelmäßig anhöre, auf die ich sogar jede Woche hinfiebere. Absolut empfehlenswert und um vieles besser (informativer und unterhaltender) gemacht, als das, was man zu wissenschaftlichen Themen so in deutschen Medien findet.

Die oben verlinkte Folge von Quirks & Quarks wurde übrigens anschließend heftig kritisiert und angegriffen. Ein paar der Hörer-Reaktionen las Quirks & Quarks dann in der nachfolgenden Sendung vor (MP3, Ogg).

Ich bin auf dem Gebiet des Autismus kein Fachmann und kann nicht sagen, ob die Theorien, die Mottron et al. verfolgen, inzwischen breite Anerkennung in Fachkreisen gefunden haben. Auf jeden Fall ist "Autismus" ein großes Thema in den USA - bislang eher hinsichtlich der Frage, welches denn nun die richtigen Therapieansätze seien. Dass die Stimme von Betroffenen selber, die sich gegen die Therapie-"Wut" wehren, in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion über Autismus wahrgenommen wird, scheint jedoch relativ neu zu sein.

Kritische Stimmen (vor allem von Eltern von autistischen Kindern) gegenüber diesen Ansichten von Betroffenen merken jedoch an, dass "Autismus" ein so breitgefächertes "Störungs"-Bild sei, dass die Aussagen von Mottron und anderen nur für bestimmte "milde" Autismus-Formen zutreffend sein könnten, dass es jedoch weitere Formen des Autismus geben würde, die unbedingt der Behandlung bedürften.

Weitere Informationen zu und von den Betroffenen selber:

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