Der Bundestag hat also heute mit der Mehrheit der SPD- und Unionsabgeordneten beschlossen, dem Bundeskriminalamt (BKA) zu überlassen, weitgehend nach eigenem Ermessen den Zugang zu Internetseiten für deutsche Internetnutzer zu erschweren. Offiziell sollen nur Internetseiten "gesperrt" werden, auf denen Verbrechen an Kindern, speziell kinderpornografische Darstellungen, zu sehen sind.
SPD und Union meinen, so Kinder schützen zu können.
Ich habe beschlossen, in Zukunft keine schlechten Nachrichten mehr zu lesen, in der Hoffnung, so das Böse und Schlechte in der Welt bekämpfen zu können.
Qualifiziertere Wortmeldungen zum Thema gibt es beim "Arbeitskreis Zensur" (AK-Zensur) nachzulesen: AK-Zensur.de.
Hier nur noch einmal zusammengefasst die wesentlichen Kritikpunkte an dem heute vom Bundestag verabschiedeten "Zugangserschwerungsgesetz":
- Wer wirklich auf der Suche nach kinderpornografischen Darstellungen und Schriften ist, kann und wird Mittel finden, Internetzensurmaßnahmen zu umgehen. Die Wirkung der Sperren ist also äußerst begrenzt.
- Die Notwendigkeit zur Sperrung solcher Inhalte erschließt sich mir nicht, da es auch bislang kaum möglich war, im Internet versehentlich auf derartige Inhalte zu stoßen.
- Die Sperren bringen außerdem bedenkliche Nebenwirkungen mit sich. Die bedenklichste Nebenwirkung ist, dass überhaupt erst einmal durch das Gesetz eine technische Infrastruktur bei den Internetzugangsprovidern installiert wird, die den Zugang zu ausgewählten Internetseiten erschwert. Diese Sperrinfrastruktur ist in Deutschland vollkommen neu.
- Die zweite bedenkliche Nebenwirkung ist, dass eine Behörde, die der Exekutive angehört, nämlich das BKA, die Vollmacht erhält, in eigenem Ermessen zu entscheiden, ob eine Internetseite in ihren Augen kinderpornografisches Material enthält und ob sie dann den Zugang zu dieser Internetseite durch Hinzufügen der Seite auf eine Sperrliste erschweren soll. Diese Arbeit des BKA wird meiner Meinung nach nicht stark genug überwacht.
- Die dritte bedenkliche Nebenwirkung ist, dass die bislang existierenden Methoden zur Sperrung von Inhalten im Internet nicht genau genug sind. Soll heißen: Man kann im Internet nicht so einfach beispielsweise einzelne, bestimmte Bilder, Fotos oder Textstellen auf einer Internetseite sperren. Es wird immer darauf hinauslaufen, dass man beim Versuch, beispielsweise bestimmte Bilder zu sperren, den Zugang zu einer ganzen Internetadresse und damit zu einer ganzen "Website" (Website ist nicht gleich Webseite!), zu einer ganzen Webpräsenz also, sperren wird. Beim Sperren von Kinderpornografie wird es also zu Kollateralschäden kommen. Ich befürchte, dass es kaum Websites gibt, die als einzigen Inhalt kinderpornografisches Material enthalten. Ich befürchte, dass das meiste kinderpornografische Material, das derzeit überhaupt noch öffentlich sichtbar irgendwo im Internet angeboten wird, meist versteckt unter Massen an legalen Inhalten auf großen Community-Webseiten oder großen Internetforen angeboten wird, auf denen es eben nicht um Kinderpornografie geht, sondern um ganz andere, legale Themen.
- Die vierte bedenkliche Nebenwirkung ist, dass das BKA anfangen könnte, nicht nur den Zugang zu Websites zu erschweren, auf denen kinderpornografisches Material zu sehen ist, sondern auch den Zugang zu Websites, die wiederum auf Websites verweisen, auf denen kinderpornografisches Material zu sehen ist. Wenn das BKA diese Art der Sperre von verlinkenden Websites anfangen würde, müsste unbedingt immer der Kontext beachtet werden, in dem jemand auf Websites verlinkt, die kinderpornografisches Material anbieten: Hat er nur allgemein auf eine Website verlinkt, die auch kinderpornografisches Material beinhaltet? Oder hat er auf das Material verlinkt als Teil einer Dokumentation oder politischen Auseinandersetzung? Hätte beispielsweise die Whistleblower-Website Wikileaks.org nicht die Internetsperrlisten anderer Länder (die ja Links zu kinderpornografischem Material enthalten) veröffentlicht, wüsste heute niemand, dass auf vielen dieser Sperrlisten überwiegend Internetseiten standen, die eben keine Kinderpornografie enthielten. Sollte also das BKA anfangen, auch Websites zu sperren, die in irgendeiner Form, direkt oder indirekt auf kinderpornografisches Material verlinken, würde das BKA anfangen, äußerst komplexe Entscheidungen mit weitreichenden Folgen zu treffen und umzusetzen.
Die Politik erlaubt dem BKA also nun, weitgehend ohne Aufsicht
komplizierte Entscheidungsprozesse durchzuführen und umzusetzen, bei denen Fehlentscheidungen massive Auswirkungen für die gesamte Gesellschaft haben könnten:
A) Die Entscheidung, ob es sich bei einem Inhalt um kinderpornografisches Material handelt, mag - zumindest bei dem sogenannten "harten" kinderpornografischen Material - noch relativ einfach und damit wenig fehleranfällig verlaufen.
B) Als zweiter Schritt muss dann vom BKA entschieden werden, ob die Website, auf der das Material gefunden wurde, auf die Sperrliste kommen soll. Diese Entscheidung ist schon wesentlich komplexer. Es muss beurteilt werden, ob man den Provider der Website schnell erreichen kann und ob dieser dann die Website löscht, damit sie nicht gesperrt werden muss. Es muss beurteilt werden, ob die Sperrung verhältnismäßig wäre, ob also wegen eines kinderpornografischen Bildes beispielsweise der Zugang zu einer riesigen Website, auf denen Millionen von Nutzern Inhalte veröffentlichen (zum Beispiel Blogspot.com, wo dieses Weblog hier gehostet wird) gesperrt werden soll. Es könnte natürlich sein, dass das BKA hier überhaupt keine Abwägungen trifft und sofort jede Website, auf der irgendwo kinderpornografisches Material angeboten wird, sperrt.
Noch schwieriger und komplexer werden die dem BKA zugemuteten Entscheidungsprozesse, wenn bald eventuell nicht mehr nur kinderpornografisches Material auf Sperrlisten landen soll, sondern wenn aus Politik, Wirtschaft und sonstigen Interessenverbänden Forderungen gestellt werden, die neue Zensurinfrastruktur auch zum Sperren weiterer unliebsamer Inhalte einzusetzen (Verstöße gegen das Urheberrecht, Aufrufe zur Gewalt, vermeintlich jugendgefährdende Inhalte wie angebliche "Killerspiele", Glücksspielangebote und so weiter). Jedes Mal müsste das BKA entscheiden, ob...
A) Ein Inhalt in die Kategorie der zu sperrenden Inhalte überhaupt rein gehört und, ob...
B) Die Sperrung der Website, auf der der Inhalt zu finden ist, anschließend überhaupt verhältnismäßig ist.
Bislang überließ man in Deutschland solche Entscheidungen öffentlich tagenden Gerichten. Aber selbst das mehrstufige, öffentliche Gerichtssystem, mit seinen anwaltlichen Vertretungen, Expertenanhörungen und einem genauen Regelwerk zeigte sich in der Vergangenheit häufig beinahe überfordert diese beiden Punkte A) und B) in anderen Kontexten zufriedenstellend zu bewältigen. Beispielsweise bei der Entscheidung, ob in einem Roman die Beschreibungen von Charakteren die Persönlichkeitsrechte von lebenden Personen betrifft (A) und wenn ja, welche Folgen dies hat (B), also ob der Roman als ganzes verboten werden muss oder ob nur bestimmte Stellen im Roman gelöscht werden sollen.
Leider bin ich mir sicher, dass bald viele Gruppen, Politiker und Verbände fordern werden, weitere Inhalte im Internet zu sperren. Nicht, weil das BKA dann so effizient und fehlerfrei all diese Inhalte beurteilen können wird, sondern gerade, weil das BKA dies eben nicht kann. Die Alternative nämlich, also die Durchsetzung ihrer Ansprüche auf dem althergebrachten Weg vor Gericht, ist diesen Gruppen, Politikern und Verbänden nämlich zu anstrengend. Es ist die Anstrengung, die diese Gruppen scheuen und es ist eben nicht die Gerechtigkeit, die sie suchen.
Schaue ich mir den gesamten politischen Prozess an,...
(Manipulierte Umfragen wurden als Beweise für die angeblich breite Befürwortung des Gesetzes veröffentlicht; Ministerinnen belogen die Öffentlichkeit nachweislich mit falschen Zahlen; die Regierung hatte nachweislich und nach eigener Auskunft keine Ahnung über das Ausmaß von Kinderpornografie oder die Wirksamkeit der angedachten Maßnahmen; Sperrbefürworter aus CDU und CSU unterstellten ihren politischen Gegnern, Verbrecher zu sein; alle Experten sprachen sich gegen Sperren aus; die Medien zeigten nur mäßiges Interesse; 130.000 namentlich und öffentlich auftretende Petitenten wurden diffamiert und die Institution des Petitionsausschusses von der Politik schlicht ignoriert und damit diskreditiert und so weiter)
...
der nun also heute zum Beschluss des Bundestages geführt hat, eine neue Zensurinfrastruktur in Deutschland aufzubauen, dann
befürchte ich, dass es in näherer Zukunft weitere Gruppen,
Politiker und Verbände
leicht haben werden, weitere Internetinhalte auf Sperrlisten setzen zu lassen, um so die komplexen Entscheidungen über derartige Sperren ganz bewusst dem überforderten BKA zu überlassen statt ordentlichen Gerichten.
Alleine die Tatsache, dass die Politik trotz der Diskussion der vergangenen Wochen das Zugangserschwerungsgesetz heute beschlossen hat, macht deutlich, dass der
politische Prozess in Deutschland nicht mehr in der Lage ist rationale Entscheidungen hervorzubringen, die dem gesamtgesellschaftlichen Wohl - unter der Beachtung des Maßstabs der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der Rechte von gesellschaftlichen Einzelgruppierungen - dienen.
Meine Prognose lautet also: Das BKA wird demnächst auch im Auftrag der kleinen Urheberrechte-Verwerterindustrie Internetseiten sperren. Und das BKA wird demnächst auch zur Befriedigung der politischen Geltungssucht von Unionspolitikern vermeintlich jugendgefährdende Inhalte im Internet sperren. Und das BKA wird demnächst auch weiteren Raum für Fehlentscheidungen bekommen, indem es angewiesen wird Glücksspielseiten zu sperren. Und so weiter.
Gerichtsverfahren sind überholt. Heute überlässt man die Arbeit dem BKA und einem dürren Expertenrat, der mal alle paar Monate in ein paar kurzen Sitzungsstunden alibimäßig über die hunderten von Sperrentscheidungen des BKA einen Blick schweifen lässt.
Ich habe rechts unten im Weblog mal einen
Counter installiert (aktiviertes Javasript nötig), auf dem ab heute jeder Tag gezählt wird, an dem bislang in Deutschland nur Kinderpornografie gesperrt wird. Mal sehen, wie lange er zählen muss, bis das Zugangserschwerungsgesetz geändert und erweitert wird. Ich befürchte, es wird weniger als 365 Tage dauern.