Donnerstag, 11. Oktober 2007

Die Befürworter von mehr Überwachung handeln unmoralisch

Wenn Gesetze verabschiedet werden, geht es letzten Endes immer darum, mit ihnen das menschliche Verhalten zu lenken und zu steuern. Beispielsweise will man Anreize erzeugen, umweltfreundliche Autos zu kaufen, indem man sie steuerlich begünstigt. Hinter dieser Annahme steckt eine ganz bestimmte, implizite Theorie darüber, wie Menschen funktionieren. In diesem Fall geht man stillschweigend davon aus, dass Menschen sich ökonomisch rational verhalten, also immer die Alternative mehrerer Handlungsmöglichkeiten wählen, die für sie ökonomisch am sinnvollsten ist - hier das umweltfreundliche Auto, sofern der Steuervorteil insgesamt tatsächlich einen finanziellen Vorteil verspricht.

In der Psychologie jedoch ist diese implizite Annahme, dass Menschen sich immer ökonomisch rational verhalten (Menschen also ein "homo oeconomicus" seien), umstritten! Das erstaunt viele Nicht-Psychologen (vor allem aber neoliberale Wirtschaftsheinis) oftmals. Und doch kennt jeder eigene Beispiele, in denen er nicht einem klar zu benennenden finanziellem Vorteil folgt, sondern seine Entscheidungen von ganz anderen Überlegungen bestimmt werden. (Es sprengt jetzt leider meine Zeit, hier näher auf alternative psychologische Modelle dazu, was Menschen in ihrem Handeln bestimmt oder bestimmen könnte, einzugehen. Deswegen hoffe ich, dass an dieser Stelle der Hinweis auf das eigene Erleben als Argument dafür ausreicht, dass die Theorie vom "homo oeconomicus" als einzig mögliche Erklärung menschlichen Verhaltens nicht überzeugend ist.)

Die Mehrheit der Gesetze versucht jedoch nicht durch das Setzen von positiven Anreizen menschliches Verhalten zu steuern, sondern durch die Androhung von Strafen. Auch hier steckt wieder die Annahme dahinter, dass Menschen so rational seien, sich Strafen entziehen zu wollen. Und auch hier kann jeder sich Beispiele und Situationen einfallen lassen, in denen er selbst eventuell trotz Strafandrohung die verbotene Handlung ausführen würde.

Ein wichtiges Kriterium, das bestimmt, ob man verbotene Handlungen nicht ausführt, ist die Frage, ob man beobachtet wird, also Gefahr läuft, beispielsweise bei einem Ladendiebstahl geschnappt zu werden. Gibt es weitere Kriterien, die die Entscheidung beeinflussen könnten, einen Ladendiebstahl zu begehen oder nicht zu begehen? Der Verfechter einer Theorie vom Menschen als "homo oeconomicus" würde jetzt sagen: Nein! Sobald sich jemand unbeobachtet fühlt, das Risiko entdeckt zu werden gering genug ist, greift man zu und stiehlt. Denn das wäre aus Sicht des einzelnen Menschen ökonomisch das sinnvollste Verhalten.

Die eigene Erfahrung und Forschungsergebnisse der Psychologie legen jedoch nahe, dass diese Sicht auf den Menschen als "homo oeconomicus" zu kurz greift. Der größte Teil der Menschheit läuft eben nicht durch die Gegend und stiehlt bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Läden leer.

Die Tatsache, ob man beobachtet wird oder nicht, die Tatsache also, ob man tatsächlich eine Strafe zu erwarten hat oder nicht, ist nur eine von möglichen Kriterien, die unser Verhalten bestimmen.

Erwachsene Menschen mit normaler Sozialisation haben übergeordnete moralische Konzepte entwickelt, Werte, die sie lenken in ihrem Handeln. Verbote werden dann nicht mehr in erster Linien danach beurteilt und befolgt, ob sie Strafen nach sich ziehen und wenn ja mit welcher Wahrscheinlichkeit, sondern vor allem werden Vorschriften und Gesetze danach beurteilt, ob sie übergeordneten Wert- und Moralvorschriften entsprechen. So kann beispielsweise ein Gesetz, das zwar in Übereinstimmung mit den eigenen moralischen Werten Ladendiebstahl verbietet, aber als Strafe für Ladendiebstahl in jedem Fall beispielsweise auch beim ersten Vergehen bereits eine langjährige Gefängnisstrafe vorsieht, als unmoralisch bewertet werden. Noch unmoralischer könnte es bewertet werden, wenn beispielsweise nur der Diebstahl von Waren einer bestimmten Art eklatant bestraft würde, der von anderen Gegenständen jedoch weniger stark. Oder wenn bestimmte Personen weniger schlimme Strafen bekommen würden. Andererseits kann es genauso sein, dass es als unmoralisch empfunden wird, wenn alle Menschen gleich stark bestraft werden. Die Auseinandersetzungen und Diskussionen über die besonderen Strafvorschriften im Jugendstrafrecht zeigen, dass darum gekämpft wird, Gesetze zu haben, die übergeordneten Moralvorschriften entsprechen.

Die Legitimität solcher Gesetze würde also in Frage gestellt werden, wenn sie diesen übergeordneten Moralvorschriften nicht ensprechen. Es spielt also bei der Beurteilung von Gesetzen nicht nur eine Rolle, ob sie einen selbst irgendwie betreffen oder nicht, ob man also geschnappt werden könnte oder nicht, sondern auch, ob sie moralisch gerechtfertigt sind. Sind sie das nicht, ist zu erwarten, dass viele Menschen solche Gesetze "innerlich" ablehnen, vielleicht sogar bewusst gegen die Gesetze verstoßen - als Ausdruck des Protestes. Oder dass sie sich eben nur dann an diese unmoralischen Gesetze halten, so lange sie Strafe konkret fürchten müssen, aber dann tatsächlich bei der nächsten, unbeobachteten Gelegenheit auf dieses unmoralische Gesetz "pfeifen".

Menschen haben also eine Moral. Und befindet sich diese im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen, dann werden Menschen sich trotz Strafandrohung mit höherer Wahrscheinlichkeit eher nach ihrer eigenen Moral richten als nach dem, was in den Gesetzen vorgschrieben ist.

Der Gesetzgeber kann darauf auf drei verschieden Arten reagieren: 1.) Er erhöht den Strafdruck, beispielsweise indem er die Strafandrohungen erhöht oder die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens einer Strafe erhöht durch umfassendere Überwachung. 2.) Er schwenkt auf die moralischen Vorstellungen der Bürger ein und übernimmt sie und ändert die Gesetze dementsprechend. 3.) Er versucht die Bürger zu erziehen und ihre Moral zu verändern.

Wir haben also festgestellt: Menschen richten sich eher nach dem, was sie als moralisch richtig empfinden als schlicht nach dem, was verboten ist oder nicht verboten ist. Gesetze scheinen also dann am wirksamsten zu sein, wenn sie die bestehende Moral unterstützen und nicht, wenn sie ihr widersprechen.

Und jetzt erst komme ich zu dem Punkt, auf den ich hinaus wollte:

Dass Menschen eine Moral haben (wie auch immer die inhaltlich ausgestaltet sein mag) zeigt, dass Moral für Menschen wichtig ist. Eine Moral zu haben sagt nämlich: Ich richte mich freiwillig nach bestimmten Handlungs- und Wertmaßstäben, die ich selbständig als richtig oder falsch erkannt habe. Eine Moral für sich entwickelt zu haben und ihr zu folgen, drückt aus, dass man ein freies, autonomes Wesen ist. Nach dem Motto: Ja, ich richte mich nach den Regeln der Gesellschaft, aber ich tue dies freiwillig, weil ich sie als gut und richtig erkannt habe. Für den eigenen Selbstwert ist es wichtig, wahrzunehmen oder zumindest zu glauben, dass man autonom handelt.

Insofern greifen Gesetzesvorhaben, die eine immer stärkere Überwachung des Einzelnen mit sich bringen, genau dieses Selbstbild vieler Menschen, sich freiwillig und selbstbestimmt für das Gute zu entscheiden - und nicht nur weil man insgeheim beobachtet wird und in jedem Fall Strafe zu erwarten hat - an. Wird man beständig beobachtet oder in relevant hohem Maße beobachtet, kann niemand mehr vor sich selbst in überzeugender Weise behaupten, freiwillig und selbstbestimmt zu handeln.

Umfassende Überwachung greift somit den Wunsch des Menschen an, sich als selbstbestimmt und Herr über sein eigenes Leben wahrzunehmen.

Das Menschenbild der Befürworter einer immer umfangreicheren Überwachung als Mittel gegen Kriminalität greift zu kurz, gefährlich zu kurz, denn sie übersehen die eigentliche Triebfeder, die Menschen zu einem sozialen und nicht zu einem asozialen Wesen macht: Die Moral.

Moralisch handelnde Menschen wissen das. Und sie wissen, dass sie ebenso - um das Selbstwertgefühl des Gegenüber nicht zu verletzen - davon ausgehen müssen, dass der Andere ihnen gegenüber eine Moral besitzt, nach der er sich auch dann richtet, wenn er gerade nicht beobachtet und überwacht wird. Diese Einstellung dem Anderen gegenüber nennt man Vertrauen, Vertrauen in ihn und Vertrauen in seine persönliche Integrität.

Eine vom Staat verfolgte Agenda, dass Verbrechensprävention eine immer umfassendere Überwachung aller Bürger nötig mache, untergräbt diesen Grundstein menschlichen, moralischen Zusammenlebens und untergräbt das Vertrauen der Menschen zueinander und erst recht gegenüber dem Staat.

Ein aktueller Artikel bei Zeit.de stellt diesen letzten Punkt hervorragend dar: Überwachung macht unsicher.

2 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

Überbordende Überwachung und Prävention, mein bester Herr Solon,

nehmen dem Menschen das Vermögen, selbstbestimmt zu denken und zu handeln. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Aus der Geschichte wissen wir, daß totalitäre Systeme sogar imstande sind, ein Unzahl von Menschen in mordlüsternde Massenmörder zu verwandeln.

Was aber ist Moral eigentlich und woher kommt sie? Ist es eine naturgegebene Eigenschaft des Einzelnen, oder entsteht sie erst im Rahmen einer Gesellschaftsordung?

Wäre sie jedem Individuum zueigen und zudem noch einheitlich ausgeprägt, bedürfte es wohl kaum festgeschriebener Regeln für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Moral ist aber offensichtlich keine fixe Größe, sondern eine ganz individuelle Vorstellung davon was richtig und was falsch ist. Eine Vorstellung die sich im Lauf eines Lebens durchaus auch mehrfach ändern kann.

Die Frage, wie eine Gesellschaft mit einem sehr breiten Spektrum an Moralvorstellungen umgehen soll ist schwierig und in der Praxis alles andere als befriedigend gelöst.

Dafür ein Beispiel: Mord ist bei Strafe verboten. Ich empfinde das als moralisch richtig. Trotzdem bringen sich Menschen immer wieder gegenseitig um, was ich nicht mit meiner Moralvorstellung in Einklang bringen kann. Sollte man Morde deshalb um jeden Preis verhindern? Ich denke nicht. Erstens ist es gar nicht möglich. Zweitens sind Tötungsdelikte sehr seltene Ausnahmen. Dennoch können wir damit nicht umgehen. Wir akzeptieren bereitwillig ein Vielfaches an Todesopfern für Individualverkehr ohne uns auch nur für ein Tempolimit zu erwärmen. Gleichzeitig fordern wir immer härtere Strafen für offensichtlich kranke Sexualtriebtäter ohne die geringste Aussicht auf eine Verbesserung.

Gesetze sind im besten Fall das Ergebnis einer Suche nach einer mehrheitsfähigen Moralvorstellung.

Solon hat gesagt…

Die Psychologie betrachtet "Moral" durchaus als etwas, was sich bei jedem Menschen naturgegeben entwickelt. Ich verweise hier auf die Theorien zur Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg.

Dabei ist tatsächlich unerheblich, wie sich die Moral inhaltlich ausfüllt, ob man also beispielsweise Vergehen XY schlimmer findet als Vergehen YZ.

Was ich darstellen wollte, war, dass wir Menschen uns in unserem Handeln nicht einfach nach Konzepten von Belohnung und Bestrafung richten in unserem Handeln - also quasi wie gut dressierte Tiere. Sondern, dass ein erheblicher Teil unserer Verhaltenssteuerung aus dem erwächst, was wir als gut oder richtig erkannt haben - und zwar hinsichtlich übergeordneter Werte und nicht nur hinsichtlich der Frage, ob eine Handlung eventuell eine Strafe nach sich zieht oder nicht.

Wie diese Werte dann im einzelnen aussehen und inhaltlich ausgestaltet sind, ist eine andere Frage.

Der Wunsch nach immer mehr Überwachung als Mittel zur Prävention tut aber so, als ob Menschen nur durch Überwachung zu einem Verhalten gezwungen werden könnten, das gesellschaftlich akzeptabel ist. Und dies ist eine absolut verkürzte Sichtweise auf das menschliche Wesen. Sprich: Das Menschenbild der Überwachungsfanatiker ist unmoralisch in dem Sinne, dass es die Rolle der Moral als Faktor der Verhaltenssteuerung außer Acht lässt.

Dennoch sind natürlich Strafandrohungen nicht überflüssig. Aber dass Menschen Gesetze befolgen, hängt eben zu großen Teilen nicht nur davon ab, dass sie Angst davor haben, eventuell erwischt zu werden beim Übertreten von Gesetzen. Sondern vielmehr davon, dass sie einsehen, dass das ungesetzliche Handeln moralisch falsch ist, wenn - wie Sie Herr Fellow Passenger richtig bemerken - Gesetze eine adäquate Annährung darstellen an eine mehrheitsfähige Moralvorstellung.