Donnerstag, 30. November 2006

Expertenstreit um Killerspiele?

Wer hat denn nun Recht? Sind Computerspiele schädlich? Gibt es einen Streit zwischen Experten zu dem Thema oder nicht?

Ich habe mir einmal die Diskussion zum Thema angesehen und komme zu folgendem Schluss:

Computerspiele können schädlich sein. Einen Streit zwischen Experten gibt es eigentlich nicht. Was nicht ausschließt, dass es immer einige Forscher gibt, die frech in der Öffentlichkeit auftreten und einige Forschungsergebnisse in ihrer Bedeutung überschätzen. Wenn also zum Beispiel manche Hirnforscher mutig behaupten, dass eine kurzfristige Veränderung des Blutflusses in manchen Hirnregionen während des Computerspielens ein klarer Hinweis dafür sei, dass der betroffene Mensch Moral- und Wertvorstellungen dauerhaft ändern würde und nach genug Zeit am Computer bereitwilliger auch längerfristig aggressiv gegen Mitmenschen auftreten würde. Für solch eine Behauptung gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Hinweise. Die in Computertomographen gemessenen Veränderungen der Arbeitsweise des Gehirns beim Computerspielen belegen nur, dass das Gehirn arbeitet. Würde sich da im Gehirn nichts verändern während des Spielens am Computer, wäre es tot. Insofern erstaunen mich solche Forschungsergebnisse überhaupt nicht, obwohl dieser Welt.de-Artikel natürlich brutal suggerieren will, dass die zitierten Forschungsergebnisse langfristige Folgen von Computerspielen aufzeigen würden. Der Artikel ist in seiner Machart also ein Angriff auf die Wahrheit. Aber lassen wir das. Es gibt ja tatsächlich Hirnforscher, die behaupten, dass das Gehirn längerfristig durch Computerspiele verändert wird. Meist beschränkt sich diese Vermutung darauf, dass motorische und sensorische Fähigkeiten trainiert würden. Einige wenige Hirnforscher gehen weiter und behaupten, dass Computerspiele Gehirne so umformen könnten, dass die Spieler eine Gefahr für die Gesellschaft werden könnten (dazu unten mehr). Da Hirnforscher schöne bunte Bilder von Magnetresonanztomographen vorlegen können und diese Maschinen auf Laien sehr beeindruckend aussehen, erlangen solche gewagten Thesen über längerfristige Auswirkungen von Computerspielen auf die Gehirnstruktur häufig große Aufmerksamkeit in den Medien. Magnetresonanztomographen sind jedoch keine Allwissenheits-Maschinen. Die bunten Bilder bedürfen extrem der Interpretation und zeigen für sich genommen erst einmal gar nichts. Bei der Auswertung hängt es also stark davon ab, von welchen Theorien man ausgeht.

Frage 1: Sind Computerspiele also nun schädlich?
Ja, sie können schädlich sein. Besonders, wenn jüngere Kinder ihre Freizeit vor allem nur mit Computerspielen füllen. Dabei kommt es weniger auf die Art der Computerspiele an als auf die Einseitigkeit der Beschäftigung. In diesem Sinne wäre jedoch wahrscheinlich ein übermäßiger Fernsehkonsum ähnlich schädlich, wenn nicht sogar schädlicher. Das, was hier also Schaden verursachen kann, ist die Einseitigkeit. Die Ursache für einseitige Freizeitbeschäftigung liegt weniger bei den Computerspielen an sich, sondern vielleicht an mangelnden Alternativen. Hat das Kind Freunde? Gibt es alternative Spiel- und Sportangebote? Kümmern sich die Eltern um das Kind oder ist den Eltern die Selbstbeschäftigung des Kindes mit Computerspielen willkommen, da sie sich so um das Kind nicht zu kümmern brauchen? Computerspiele können also schädlich sein. So wie jede einseitige Beschäftigung schädlich sein kann. Wer als Kind jeden Tag sieben Stunden lang Fußball spielt, tut sich auch nichts Gutes an. Genauso wie Fußball können Computerspiele jedoch auch förderlich sein. Schon alleine deswegen, weil Computerspiele wahnsinnig unterschiedlich sind. Wer also sagt, dass Computerspiele schädlich sind, muss auch sagen, dass Fußballspielen schädlich ist.

Frage 2: Sind Killerspiele schädlich?
Bleiben wir ruhig mal bei dem umstrittenen Ausdruck "Killerspiele" und verstehen darunter einmal alle Spiele, die virtuelle Gewalt zeigen und zudem Reaktionsschnelligkeit des Spielers erfordern. Die Antwort kann dann lauten: Ja, Killerspiele können schädlich sein. Grund Nummer eins: Siehe Antwort zu Frage 1. Zweiter Grund: Es gibt kurzfristige Auswirkungen. Der Adrenalin- und Testosteronspiegel steigt. Direkt nach dem Killerspiel ist der Spieler aufgeregter und weniger einfühlsam. Außerdem behindern solche aufregenden Tätigkeiten das Setzenlassen von zuvor Gelerntem. Wer also vor dem Killerspiel Vokabeln gelernt hat, wird sie weniger leicht behalten, als wenn er sich nach dem Lernen einer ruhigeren Tätigkeit hingibt. Dritter Grund: Die Moralentwicklung junger Kinder ist noch nicht abgeschlossen. Es könnte sein, dass Computerspiele, in denen exzessives, virtuelles Töten gezeigt wird, Auswirkungen haben auf die Moralvorstellungen solcher Kinder. Deshalb sind solche Spiele ja auch für Kinder bereits heute verboten. Vierter Grund: Manche Hirnforscher meinen, dass das Rumgeklicke am Computer auch bei älteren Menschen im Gehirn langfristig Strukturen verändert und auf diese Weise Verhaltensweisen, die der Spieler am Bildschirm ausübt, trainiert und zweitens diese Verhaltensweisen dann im realen Leben zur Gefahr werden könnten. Wer demnach gut darin ist, mit seiner Computermaus Menschenabbilder auf dem Bildschirm zu treffen, der sei auch gut darin, mit einer realen Waffe in der realen 3D-Umwelt Menschen skrupellos abzuschießen. Hier verbergen sich zwei Behauptungen: Einerseits finde ein Lernen motorischer Fähigkeiten statt, die auf die reale Welt übertragbar sei. Das Mausgeklicke helfe beim Umgang mit einem realen Gewehr. Fragwürdig, wie ich finde. Andererseits könne unser Gehirn nicht wirklich unterscheiden zwischen virtueller und realer Welt. Das virtuelle Töten sei somit auch ein Lerneffekt, der sich beim Verhalten in der realen Welt bemerkbar mache. Auch in realen Situationen würde die Verhaltensweise des Tötens durch diesen Lerneffekt begünstigt. Folge: Leute, die Killerspiele spielen, seien angeblich allgemein bereiter dazu, zu töten. Aus diesem Grund würde die US-Armee auch Computerspiele im Training einsetzen.

Problem: Wissenschaftlich gibt es für diese Aussage kaum Belege. Zumindest keine solchen Belege, die ein solches Durchgreifen des Staates rechtfertigen könnte, wie es zum Beispiel ein Herstellungsverbot bestimmter Computerspiele und das Unterwerfen einer Kultur- und Wirtschaftsbranche unter das Diktat staatlicher Zensur sein würde. Auch wenn zum Beispiel Hirnforscher Manfred Spitzer behauptet, dass Menschen den Wirkungen von Killerspielen hilflos ausgeliefert seien und deshalb eigentlich verboten gehören (Dradio.de: Hirnforscher fordert Extra-Steuer auf "Killerspiele", MP3-Datei des Interviews). Spitzer vermengt in seiner Argumentation jedoch die zweifelsfrei nachgewiesene Wirkung von Medien allgemein (zum Beispiel die Wirkung von Werbung etc.) mit der spezifischen, angenommenen Wirkung, dass Menschen, die Killerspiele spielen, allgemein und langfristig gefährlicher und aggressiver seien. Spitzer zieht aus der Tatsache, dass Menschen in der Lage sind zu lernen, den Schluss, dass Menschen im Grunde genommen total fremdbestimmt seien, dass sie abhängig seien von dem, was auf ihr Gehirn einwirkt. Der Medienpädagogik spricht er dabei jeglichen Sinn ab. Die Interpretation der Welt spielt für Spitzer keine Rolle. Was zähle seien die Reize, die im Gehirn ankommen. Spitzer hat somit ein extrem positivistisches Weltbild: Der Reiz von außen ist alles. Auswahleffekte, dass Menschen also sich gezielt bestimmten Reizen aussetzen oder Reize meiden, sieht er anscheinend nicht. Außerdem ist Spitzer der Meinung, dass man Amokläufe nicht vorhersagen könne. Sie würden einfach so passieren. Er bezeichnet somit zum Beispiel Psychologen, die mit Hilfe des Phänomens des "Leaking" Amokläufer im Vorhinein zu erkennen versuchen (Welt.de: Wie Amokäufer psychologisch erkannt werden können") indirekt eigentlich als Scharlatane. Spitzer gehört also jener kleinen Fraktion von extremen Hirnforschern an, die dem Menschen jeglichen freien Willen absprechen - auf Grundlage eines zweifelhaften Experimentes übrigens, dessen Aussagen inzwischen auch ganz anders interpretiert werden. Warum allerdings bei den Massen an Menschen, die sich täglich diesen "Killerspielen" aussetzen, bislang so wenig passiert ist, kann Spitzer nicht erklären.

Weiter also zum Thema "Killerspiele". Dass die US-Armee Computerspiele einsetzt, hat auch ganz andere Gründe. Zum Beispiel als Werbung oder zum taktischen Training. Und selbst wenn die Vermutung stimmt, dass ein Killerspieler bereitwilliger den Abzug ziehen würde: Er müsste ja erst einmal einen realen Abzug in der Hand halten. Da wäre die Frage interessanter, wie dieser Abzug in seine Hand gelangt ist? Warum hat er eine Waffe in der Hand? Was hat ihn dazu veranlasst, eine Waffe in die Hand zu nehmen? Bleibt man streng bei der Argumentationskette mancher Hirnforscher, können sie diese Frage nicht beantworten, denn in Computerspielen wird nicht die Beschaffung von Waffen trainiert, sondern korrektes und schnelles Zielen und Treffen. Im Computerspiel hat man die Waffe immer schon in der Hand. Wenn also Killerspiele das Töten tatsächlich trainieren, dann nur den letzten Schritt vor dem Ziehen des Abzugs. Alles, was davor passiert ist, bleibt ausgeblendet. Vielleicht wäre unter diesem Gesichtspunkt also ein Verbot des Spielens von Killerspielen sinnvoll - und zwar für Polizisten, damit die nicht zu schnell den Abzug ziehen.

Die Argumentation mancher Hirnforscher greift also zu kurz, wenn sie versuchen jenseits von motorischen Lerneffekten mit den bunten Bildern aus dem Magnetresonanztomographen gesellschaftliche Phänomene erklären zu wollen. Mehr zu diesem Aspekt erfährt man zum Beispiel auch in diesem absolut lesenswerten Interview mit dem amerikanischen Schriftsteller Richard Powers bei Welt.de: Bücher sind genauso gefährlich wie Videospiele. Weitere Stimmen von Experten findet man in den von mir unter "Medien kontern Killerspiel-Verbotsrufe" verlinkten Artikeln.

Psychiater Prof. Lothar AdlerFrage 3: Verursachen Killerspiele Amokläufe?
Wohl kaum. Erhellendes dazu weiß der Psychiater Professor Lothar Adler zu berichten, der sich lange Zeit mit dem Phänomen "Amoklauf" beschäftigt hat. Die TV-Sendung "Kulturzeit" von 3Sat interviewte ihn und erläutert seine Forschungsergebnisse: Ausgetickt und durchgeknall - Gibt es eine psychologische Erklärung für das Phänomen "Amoklauf"? Kurze Antwort auf diese Frage: Ja, die gibt es. Und Computerspiele spielen da keine Rolle.

Jeder möge sich nun selbst ausrechnen, ob es sinnvoll ist, eine ganze Kultursparte wie Computerspiele staatlicher Zensur zu unterwerfen und den Zugang zu manchen dieser Kulturgüter sogar staatlicherseits mündigen, erwachsenen Bürgern zu verbieten. Für Menschen, die täglich mit Waffen zu tun haben, könnte jedoch - so sich die Vermutungen mancher Hirnforscher über mögliche langfristige, motorische Lerneffekte durch Computerspielen bestätigen - ein Verbot des Umgangs mit Killerspielen sinnvoll sein. Für Kinder sind sie längst verboten. Und würde in Computerspielen eine allgemeine Verherrlichung von Gewalt stattfinden, so gibt es dazu auch heute bereits ein Verbot.

Update: Ein Artikel der ZEIT versucht jetzt auch mal wieder etwas Verwirrung zu stiften und stellt weitere Studien von Psychologen vor, die angeblich beweisen, dass Killerspiele allgemein für jeden gefährlich seien: Killerspiele schaden doch.

Leider ist es wie so häufig bei diesen Artikeln, dass die Aussagen der Psychologen vom Journalisten falsch verstanden werden und überschätzt werden in ihrer Tragweite. So kann zum Beispiel die Aussage, dass "sowohl aggressives Verhalten, aggressive Gedanken und Gefühle bei Nutzern gewalttätiger Spiele begünstigt werden" vieles bedeuten. Etwas Ähnliches passiert auch nach dem Anschauen eines Action-Kinofilms. Zielt man wieder auf die langfristigen Folgen ab, muss man wieder genauer fragen, wie alt denn die untersuchten Probanden waren. Waren es Kinder und Jugendliche ist eh davon abzuraten, dass sie stundenlang Killerspiele spielen.
"Außerdem ließ man Menschen im Labor spielen. Eine Gruppe spielte gewalttätige, die andere gewaltfreie Spiele. Nachher verglichen die Psychologen, wie schnell aggressive Gedanken abgerufen wurden und wie stark gewalttätige Gefühle vorhanden waren" berichtet der Artikel weiter. Wieder geht es hier um kurzfristige Verhaltensänderungen. Kein Widerspruch zu dem bisher hier Gesagten.
"Die Ergebnisse der Befragung der Jugendlichen legte nahe, dass je mehr Gewaltspiele ein Jugendlicher über Monate und Jahre hinweg spielte, desto eher in bestimmten Situationen auch aggressiv handelte. Das ließ sich noch Jahre später nachweisen" geht der Artikel weiter. Auch keine neue Erkenntnis. Zu erklären ist dies damit, dass gewaltbereite Personen auch eher aggressiver anmutende Spiele spielen. Sie suchen sich diese Spiele gezielt aus. Was nicht heißt, dass alle, die aggressiv anmutende Spiele spielen, von diesem Aspekt der Spiele - nur von diesem Aspekt - angezogen wurden. Aber wenn eine Gruppe von Menschen gezielt von diesem Aspekt angezogen wird, "verfälscht" das die Statistik. Ein Beispiel: Man nehme einmal an, viele Menschen würden Erdbeeren lieben. Wegen ihres Geschmacks. Nun gibt es aber auch noch eine kleinere Gruppe von Menschen, die Erdbeeren vor allem wegen ihrer roten Farbe lieben. Wenn man anschließend der Frage nachgehen würde, ob Erdbeer-Essen eventuell dazu führt, dass man die Farbe "Rot" liebt, würde man beim Blick auf die Statistik erstaunt feststellen, dass dem wohl so sein müsse. Die Frage von Ursache und Wirkung kann so nicht beantwortet werden, dass die Computerspiele Schuld an aggressivem Verhalten sind. Das gleiche gilt auch für die weiteren Ergebnisdetails, die der Artikel darstellt. Auswahleffekte spielen hier eine große Rolle. Computerspiele haben (besonders für junge Kinder) negative Effekte, sicherlich (siehe oben). Hinzu kommt, dass sie für bestimmte Menschen, die eh schon Probleme haben (Kontaktschwierigkeiten, aggressive Fantasien, verwahrloste Kinder mit einem Mangel an alternativen Freizeitbeschäftigungen etc.) besonders attraktiv sind. Auch die von ZEIT.de vorgestellte Studie sagt also trotz des missverständlichen Artikel-Titels nichts anderes als andere Studien zu dem Thema.

Was ich damit sagen will: Nein, es gibt keinen Expertenstreit über die Wirkungsweise von "Killerspielen". Es gibt nur Journalisten, die die Ergebnisse teilweise einseitig darstellen. Der unbedarfte Leser meint dann, dass die Experten sich überhaupt nicht einig wären über die Wirkungsweise von Computerspielen. Die Folge ist, dass Psychologen und Pädagogen mit ihren Aussagen als beliebig und nicht ernst zu nehmen wahrgenommen werden. Die unsaubere Arbeit mancher Journalisten schadet dem Ansehen dieser beiden Wissenschaften.

Update 2: Anja Habermehl hat bei Medienrauschen.de einige konkurrierende psychologische Theorien zur möglichen Wirkungsweise von Medien auf Erleben und Verhalten aufgezählt: Medien und Gewalt. Dankenswerter Weise unterfüttert sie die Ausführungen auch mit einigen Links zu wissenschaftlichen Texten. Anders als der von mir schon früher verlinkte Artikel in der Süddeutschen Zeitung (Mörderische Medien - Was sagt die Wissenschaft?), der bereits vor einiger Zeit verschiedene psychologische Theorien zum Thema auflistete, enthält sich Anja Habermehl einer abschließenden Bewertung der Theorien. Die Süddeutsche Zeitung kommt zum Schluss, dass heute allgemein die verallgemeinerte, erweiterte sozial-kognitive Lerntheorie nach Bandura als anerkannt gilt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Forschungsergebnisse, auf die sich andere Theorien stützen, zu integrieren vermag. Die Wirkungen von Medien auf das menschliche Verhalten sind im Detail noch unklar, das stimmt. Was aber auch stimmt, ist, dass die Psychologie - gerade wegen der Theorienvielfalt zum Thema - klar nachweisen kann, dass es keinen eindeutigen Wirkungszusammenhang zwischen Gewalt in Medien und real gezeigter Gewalt gegenüber anderen Menschen gibt. Auch hier wieder möchte ich also den Schluss ziehen, dass es keinen Expertenstreit gibt hinsichtlich der Frage, ob "Killerspiele" automatisch zu Gewalt führen. Und das war das, was ich in diesem Weblog-Eintrag darstellen wollte.

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