Mein Tipp: Demos ab jetzt nur noch in Venezuela machen!
Wenn von vielen bekannten Medien wie Tagesschau, Süddeutsche Zeitung, Welt, Zeit, Netzeitung.de oder auch Neue Zürcher Zeitung (NZZ) über eine Demonstration berichtet wird, die außerhalb Deutschlands, ja sogar außerhalb Europas und dabei beispielsweise nicht in China (Stichwort "Unterdrückung der Meinungsfreiheit") oder in den USA (Stichwort: "Antikriegsdemonstration" oder ähnliches) stattgefunden hat. Und wenn diese Demonstration von Überschriften begleitet wird wie "Massendemonstration" oder "Unruhen". Und wenn besonders betont wird, dass die Polizei die Demonstration nicht nur einfach aufgelöst habe, sondern "mit großer Härte" und "gewaltsam" aufgelöst habe...
Welches Bild entsteht da vor dem inneren Auge?
Richtig: Es muss eine riesige Demonstration gewesen sein, wenn über sie hier in deutschen Medien berichtet wird, obwohl sie nicht in Deutschland oder in Europa stattfand, oder? Und/oder die Gewalt muss extreme Ausmaße gehabt haben, wenn über sie derart berichtet wird, nicht wahr?
Nun, an der Demonstration, die hier gemeint ist, hatten sich anscheinend circa 6.000 bis 10.000 Menschen beteiligt. Die Gewalt bestand darin, dass einige Demonstranten Steine in Richtung Polizei warfen und anscheinend Anhänger der Regierung mit Gegnern der Regierung aufeinander stießen und die Polizei daraufhin Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse einsetzte, um die Demonstration aufzulösen. Verletzt wurden insgesamt laut der Berichte ein Student und sechs Polizisten. Zumindest gab es keine Massen an Verletzten. Auch von Massenfestnahmen liest man nichts.
Die Demonstration fand in Südamerika statt.
Interessant, oder?
Und warum berichten alle über diese Demonstration?
Hmmm. Vielleicht, weil sie in Venezuela stattfand und die Chefredakteure annehmen, dass beim deutschen Medienrezipienten das Stichwort "Venezuela" schon ausreichend mit Assoziationen wie "Diktatur" und "Diktator Chavez" verknüpft ist und deshalb eine Meldung über die Auflösung einer kleinen Demo den deutschen Medienrezipienten ein wohliges "na, siehste, dieser Chavez!" enlocken dürfte?
Und wogegen wurde eigentlich demonstriert?
Gegen eine Verfassungsreform, die das Parlament Venezuelas auf den Weg bringen will.
Dagegen kann man doch demonstrieren, oder? Und so eine Verfassungsreform ist ja auch enorm bedeutend.
Ja, bedeutend ist sie. Was allerdings in den meisten Meldungen verschwiegen wird (außer bei der NZZ, die berichtet etwas ausführlicher und vor allem korrekt): Die Verfassungsreform wird in Venezuela nicht wie in solch "demokratischen" Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland einfach vom Parlament verabschiedet ohne Mitspracherechte der Bevölkerung, sondern es wird eine Volksabstimmung über die Verfassung stattfinden. Über diese Verfassungsreform wird in Venezuela schon seit vielen Wochen diskutiert. Was nicht heißen soll, dass man trotzdem auch gegen eine zur Volksabstimmung freigegebene Verfassungsreform demonstrieren können sollte.
Die Frage bleibt jedoch: Worin liegt jetzt genau die Relevanz, dass die deutschen Medien über solch eine relativ kleine Demonstration berichten? Klein ist die Demonstration und groß die Berichterstattung beispielsweise im Vergleich zu einer mehr als doppelt so großen Demonstration in Berlin vor einigen Wochen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Oder auch im Vergleich zu zahlreichen anderen Demonstrationen in Berlin, beispielsweise gegen die Hartz-IV-Gesetze. Hier halten sich deutsche Medien häufig sehr zurück bei ihrer Berichterstattung. Wenn man die Demonstration in Venezuela nun zumindest zum Anlass genommen hätte, ausführlicher über Venezuela zu berichten, könnte ich das Eingehen deutscher Medien auf die Demonstration ja verstehen. Aber genau diese ausführlichere Berichterstattung fehlt ja. Außer bei der NZZ.
Vielleicht sollten die Hartz-IV-Gegner und die Leute vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ihre nächsten Demonstrationen also einfach in Venezuela durchführen? Zumindest würden ihre Demonstrationen dann vielleicht häufiger erwähnt werden in den deutschen Medien.
P.S.: Das ZDF schreibt übrigens unrichtigerweise erneut, dass im Mai angeblich ein regierungskritischer Sender in Venezuela geschlossen worden sei. Es wurde jedoch schlicht ein Vertrag über die Nutzung einer öffentlichen Sendefrequenz nicht wieder verlängert. Der Sender ist im Kabelnetz und über Satellit weiterhin zu empfangen. Das ganze reiht sich ein in ein Vorhaben der Regierung Venezuelas, die Medienvielfalt zu erhöhen. Siehe dazu auch folgende Berichte bei Telepolis.de: Information statt Freiheit, Gefahr für die Meinungsfreiheit, Demokratie aus der Presse.
An Chávez' Politik gäbe es sicherlich genug auszusetzen. Aber die Art und Weise, wie die deutschen Medien über Venezulea berichten, offenbart in beispielhafter Weise viel von der allgemeinen Schludrigkeit und der häufig versteckten und einseitigen politischen Meinungsmache in und von deutschen Medien. Nichts gegen meinungsstarke Kommentare, aber Meinungsmanipulationen durch einseitiges Agenda-Setting, durch Weglassen von Fakten oder gar durch falsche Berichterstattung darf man nicht einfach so hinnehmen. Selbst wenn es dabei "nur" um Venezuela geht.
Nachtrag: Über eine anscheinend ziemlich große Demonstration von Anhängern der Regierung Venezuelas wird interessanterweise kaum berichtet in den deutschen Medien. Obwohl an die hunderttausend Demonstranten an iher teilgenommen haben sollen, wie Amerika21.de berichtet: Über Hunderttausend für Reform. Woher also kommt diese seltsame Schwerpunktsetzung in vielen deutschen Medien beim Thema "Venezuela"?
Technorati-Tags: Venezuela, Chávez, Chavez, Medien
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