Das Parlament ist derzeit eigentlich überflüssig
Rechtsanwalt J. Melchior zeigt in seinem Weblog, dass Unions-Politiker auf direkte und persönliche Anfragen potenzieller Wähler gerne nur mit vorgefertigten Textbausteinen aus der CDU-Zentrale antworten.
Was das zu bedeuten hat? Dass die Abgeordneten eventuell faul oder inkompetent sind? Vielleicht. Eines zeigt dieses Verhalten der Abgeordneten aber mit Sicherheit: Dass der Wähler für einen Abgeordneten eher unwichtig ist. Der Abgeordnete muss sich nicht gegenüber seinem Wähler profilieren, vor allem, wenn er auf der Wahlliste der Partei steht. Anders lässt sich nicht erklären, dass viele Abgeordneten die Chance auslassen, sich öffentlich im Internet-Portal Abgeordnetenwatch.de gegenüber dem Wähler als arbeitssam, informiert und sorgend darzustellen. Stattdessen outen diese Abgeordneten sich in peinlicher weise als uninteressiert.
Das derzeitige politische System in Deutschland läuft eigentlich auf Folgendes hinaus: In Deutschland wird nicht der einzelne Abgeordnete gewählt, sondern die Partei. Der Abgeordnete ist nur ein symbolischer Platzhalter. Eigentlich könnte man ihn abschaffen und bei jeder Wahl auch formal nur noch direkt die Partei als Ganzes zur Wahl stellen lassen. Die Prozentwerte würden dann nicht mehr auf eine Anzahl von Abgeordneten umgerechnet werden, die für die Partei im Parlament sitzen. Stattdessen flössen die Prozentwerte der Wahlergebnisse als abstrakte Gewichtung der Macht der Partei direkt ein bei der Regierungsbildung oder der Verabschiedung von Gesetzen. Als Personal würden dann neben der Regierung nur noch leitende Parteigremien benötigt, die in dem Ding, das man vormals Parlament nannte, auf Grundlage ihrer jeweiligen Parteiprogramme entscheiden, wie sie sich bei aktuellen Abstimmungen dort verhalten.
Das ganze Spiel mit den Abgeordneten ist in Deutschland doch - überspitzt formuliert - derzeit überflüssig. Es genügt halt nicht, nur die Hälfte der Abgeordneten direkt wählen zu lassen. Denn ihr Einfluss auf die Politik bleibt derzeit begrenzt. Gelten doch Parteidisziplin (vielleicht bekommen sie ja später einen sichereren Listenplatz...) und Fraktionszwang in Deutschland als wichtiger, als sich als Abgeordneter direkt vor den Wählern zu profilieren. Denn kommt der Abgeordnete in der eigenen Partie nicht an, hilft ihm auch der beste Ruf bei den Wählern nichts.
Es mag Parteien geben, die Mitglieder hoch schätzen, die als mögliche Abgeordnete bei ihren Wählern gut ankommen. Aber wenn dieser Abgeordnete in der Partei allzuviel Wirbel veranstaltet, ist es auch nicht schwer, ihn innerparteilich kalt zu stellen. Und der Wähler schaut dabei als Unbeteiligter von draußen zu.
Bleibt die Möglichkeit, einer Partei beizutreten und sie so von innen politisch zu beeinflussen. Aber warum gibt man diese Möglichkeit der politischen Einflussnahme nicht schlicht und einfach direkt dem Wähler, indem man die einzelnen Abgeordneten auch real verantwortlicher macht für ihr Abstimmungsverhalten und indem man wichtige politische Entscheidungen mittels direkter Volksabstimmungen bestimmen lässt? So wie es jetzt ist, können die einzelnen Parteien und ihre Entscheidungen vom Wähler kaum zur Verantwortung gezogen werden, denn eine von den vier, fünf Parteien muss man ja wählen - also wählt man immer das kleinere Übel. Also selbst wenn alle Parteien beispielsweise eigentlich eine Schwelle überschritten hätten, ab der man sie persönlich nicht mehr als wählbar ansieht, müsste man dennoch eine davon wählen, eben das kleinste Übel. Oder man verschenkt seine Stimme und wählt irgendeine Partei, die niemals über die 5%-Hürde kommt.
Oftmals sind es ja aber gar nicht einzelne, komplexe Parteiprogramme, die man als Wähler wählen möchte, sondern es sind einzelne Fragen, die für einen ganz besonders wichtig sind. Gäbe es mehr direkte Demokratie oder würden die einzelnen Abgeordneten einen stärkeren Einfluss im Parlament haben, könnte man diese einzelnen Fragen ganz unabhängig von der Parteilinie diskutieren und nach Lösungen suchen. Heute jedoch werden teilweise vorhandene und mögliche Lösungen politischer Probleme oftmals alleine deshalb nicht realisiert, weil sie Teil des Programms der Konkurrenz-Partei sind.
Mich wundert es nicht, wenn bei diesem Getue sich immer mehr Deutsche frustriert abwenden von der Politik. Sie werden sich im Alltag nur ungern mit politischen Fragestellungen beschäftigen, da sie eh keinen Einfluss besitzen. Vielleicht machen sie noch ihr Kreuz bei den Wahlen, aber nicht eigentlich interessiert am Geschehen. Mit der Folge, dass die Parteien noch ungestörter als bislang machen können, was sie wollen. Es ist also ein System eines wachsenden Verlustes der Kontrolle der Politik durch den Bürger. Der "Spiegelfechter" hat einmal zusammengestellt, wie die Folge dieses Kontrollverlustes aussieht: Simulacrum.
Die Lobbyisten freut diese abnehmende Kontrolle der Wähler auf die Politik natürlich. Es hängt eben alles miteinander zusammen, was derzeit in Deutschland politisch passiert: Korruption der Abgeordneten (die so nicht als Korruption bezeichnet wird, sondern als "Nebenverdienst" oder als "Ohr am Puls der Wirtschaft"), Lobbyismus, Hartz IV, Populismus (Terrorangst verbreiten, Propagierung von Pseudolösungen wie Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, Killerspielbekämpfung) und der Abbau von Grundrechten vor allem derzeit beim Datenschutz, sowie die durchorganisierte und bewusste Unterfinanzierung des Bildungs- und Justizwesens.
Verliert der Wähler den kontrollierenden Einfluss, können Politiker ungestraft ein verzerrtes Bild der Realität zeichnen und gewinnen Gruppen, die auch jenseits des Wahlzettels Einflussmöglichkeiten haben, an Macht. Es sind hierzu gar keine finsteren, verschwörerisch tätigen Gruppen nötig. Und als Lösung sind auch keine umfassenden, weltanschaulichen politischen Konzepte nötig (Kommunismus und so weiter). Das Problem liegt in Details, aber eben wichtigen Details, im derzeitigen politischen System selbst begründet. Änderungen wären machbar ohne Revolution. Wir brauchen kein neues politisches System, sondern "nur" entscheidende Verbesserungen des bestehenden Systems, die den Wählerwillen mehr und direkter einbinden und politisch Verantwortliche greifbarer machen, zum Beispiel durch ein Verbot des Fraktionszwanges, durch direkte Wahl aller Abgeordneten ohne Parteilisten, durch die Einführung von mehr Volksentscheiden, durch mehr Transparenz von Behördenwissen und Behördentätigkeiten gegenüber dem Bürger.
Und ich prophezeie: Sobald der Wähler direkteren Einfluss hat, werden populistische Lösungen (im Sinne von Lösungen, die zu viel versprechen) weniger Chancen haben, weil dann nämlich das Interesse an Politik allgemein wachsen wird und die daraus entstehenden engagierten, öffentlichen Diskussionen die Unausgereiftheit von populistischen Lösungen schnell offenbaren werden, beziehungsweise Politiker, die zuvor zu viel versprochen haben, abgestraft werden. Was natürlich auch zunehmen würde, wäre der politische Streit - vermutlich jedoch eher ein sachlicher Streit um konkrete Lösungsvorschläge. Politik würde für den Bürger ein anderes Gesicht bekommen. Es wäre nicht mehr wie jetzt so stark eine Bühne der Eitelkeiten, auf die man belustigt und befremdet starrt, sondern Politik würde eher zu einer alltäglichen Pflicht werden, in die man sich eindenken muss, um nächste Woche nicht völlig ahnungslos vor dem Wahlzettel zu stehen, auf dem beispielsweise gefragt werden könnte, ob die Bahn nun privatisiert werden soll oder nicht.
Ähnliches zum Thema hier im Weblog: Das Internet als Bedrohung für die Parteiendemokratie
Technorati-Tags: Abgeordnetenwatch.de, Abgeordnetenwatch, Politikverdrossenheit, Parteiendemokratie
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