Dienstag, 21. November 2006

Nichts wie weg! Oder nichts wie her... mit der Autonomie!

Was passiert eigentlich, wenn eine Schieflage gänzlich kippt?

Dinge häufen sich auf, das Gleichgewicht kippt, etwas Grundlegendes verändert sich. Viele Deutsche haben das Gefühl, dass irgend etwas Grundlegendes schief läuft. Das einfach nur abzutun als eingebildete Befindlichkeit ("german angst"), wird dem Phänomen nicht gerecht. Die Schieflage wird vor allem deutlich im Vergleich mit dem allgemeinen Lebensgefühl im Ausland. Noch scheint die Schieflage glücklicherweise nicht zu kippen. Aber es ist unangenehm, nicht gerade stehen zu können.

Meine These ist: Es sind nicht (so sehr) materielle Bedürfnisse, sondern vor allem psychische Bedürfnisse, die in Deutschland nicht befriedigt werden. Psychische Bedürfnisse sind genau so wirklich und wirksam wie materielle Gründe. Allein die Tatsache, dass mir scheint, dies extra betonen zu müssen, ist Teil des Problems. Meine Beobachtung ist, dass z.B. Psychologie in Deutschland in breiten Kreisen keinen hohen Stellenwert hat. Sowohl die Wissenschaftsdiziplin nicht, als auch die Vertreter dieses Faches, als auch das Thema Psychologie insgesamt nicht. Ähnliches gilt für Pädagogen oder Sozialarbeiter oder Soziologen. Sie gelten als weltfremde Spinner und Weicheier. Als Simulanten, die nur so tun würden, als wüssten sie etwas, denen zunächst einmal nicht zugetraut wird, dass sie wertvolles Wissen zur Lösung von Problemen beisteuern können.

Vielleicht ändert sich dieses Bild gerade langsam. Zumindest in den Medien wird seit einiger Zeit immer häufiger der Rat von Psychologen, Philosophen und Sozialwissenschaftlern allgemein gesucht. Die "harten" Wirtschaftsexperten hört man seltener. Vielleicht, weil deutlich wird, dass ein etwas ausgeglichenerer Haushalt nicht die Probleme löst? Nur in der Politik und beim "Mann auf der Straße" ist das noch nicht unbedingt angekommen.

Welche psychischen Bedürfnisse finden in Deutschland keine Beachtung? Bevor ich dazu meine 5 Cent beisteuere, erst zur Frage, wo diese Bedürfnisse eigentlich nun genau keine Beachtung finden. Im Freundeskreis? In der Familie? Beim Kundenservice der Deutschen Bahn? Nein. Sondern in den verschiedenartigsten Institutionen. Dazu zähle ich abstrakte Dinge wie Gesetze, aber auch konkretere Institutionen wie Schulen (eher jedoch das Schulsystem) und Parteien und Lobbygruppen und noch vieles mehr. O.k., die Deutsche Bahn gehört sicherlich dann doch auch dazu.

Bleiben wir doch gleich bei der Deutschen Bahn. Da gibt es einen Herrn namens Mehdorn, der durch folgenden Spruch berühmt wurde, der ungefähr so ging: Die Wagen der Deutschen Bahn seien häufig voller Müll, nicht weil sie zu selten gereinigt würden, sondern weil die Passagiere zu schmuddelig seien. Ein Spruch wie ein Brennglas. Ist es doch das alte Lied: Das System ist nicht für den Menschen da, sondern der Mensch für das System.

Und genau das ist es, was auch in den anderen Institutionen schief läuft: Die vielen Reden von den Reformen in Deutschland hatten alle immer zum Hauptinhalt, dass das System überfordert ist und sich nun die Menschen besser an das System anpassen müssten. Hartz IV z.B.: Angepriesen mit dem Satz von dem Fördern und Fordern, geblieben ist nur das Fordern. Die Medien waren ebenfalls geradezu geil darauf, mitzumachen bei diesem Sado-Maso-Spielchen, indem sie die Berichterstattung über das fehlende Fördern vergaßen. Fördern galt als obszön. Diese Haltung findet sich ebenfalls exemplarisch bei den Vertretern von harter und früher Auslese unter Schülern: Gezieltes, individuelles Fördern von schwächeren Schülern, damit diese aufschließen können, gilt ihnen als ungerecht. So als ob dadurch Spielregeln verletzt würden.

Wenn das Motto Überhand gewinnt, dass der Mensch sich anzupassen habe und seine Bedürfnisse zurecht rücken müsse, um ins System zu passen, wird das psychische Bedürfnis nach Autonomie verletzt. Dies ist ein grundlegendes Bedürfnis. Der Mensch möchte und muss sich als selbstbestimmt handelndes Wesen erleben und fühlen. Es ist der Kern des Menschseins. Erlebt man sich selbst als unfähig, selbstbestimmt zu handeln, bleiben nur drei Lösungswege: Erstens Rebellion, also Veränderung der Umstände, zweitens Flucht in Nischen, Fantasiewelten, Leugnen also und drittens krank werden. Psychisch oder psychosomatisch krank werden.

Ein kleines Beispiel aus der Psychologie dazu: Das Phänomen heißt "Reaktanz" (Wikipedia zu Reaktanz). Man beschreibt damit Verhalten, das als Widerstand gegen erlebte Einschränkungen verstanden werden kann. So nehmen z.B. Personen unerwartete Geschenke von Fremden nicht ohne weiteres an. Vermutlich, weil sie sich dadurch in irgend einer Art und Weise dem Schenker verpflichtet, also in ihrem Handeln eingeschränkt fühlen. Vor allem, wenn sie vor der Geschenkannahme nicht wissen, was von ihnen eventuell verlangt werden könnte. Versuchen sie also mal auf der Straße Geld zu verschenken. Einfach so. Sie werden vor allem Misstrauen und Ablehnung ernten. Die Bewahrung der eigenen Handlungsfreiheiten wird als wertvoller eingeschätzt als ein unerwarteter Geldgewinn. Das entspricht nicht dem Menschenbild von allein auf die Ökonomie fixierten Experten, nebenbei bemerkt.

Ich behaupte nun, dass das Unwohlsein vieler in Deutschland darauf zurückzuführen ist, dass sie sich nicht als handelnde, selbstbestimmte Personen wahrnehmen. Wichtig ist das Wort "wahrnehmen". Objektiv kann das ganz anders aussehen. Die Leute meinen, dass sie keinen Einfluss haben und das reicht. Es spielt dann keine Rolle, ob ein anderer Mensch in einer ähnlichen Situation sich auch als handlungsunfähig erleben würde oder nicht.

Ich behaupte nun weiterhin, dass es einerseits tatsächlich so ist, dass deutsche Institutionen (im oben erwähnten weiten Sinne) so gestaltet sind, dass sie Handlungsfreiheiten vor allem einschränken. Andererseits gibt es viele Einflüsterer, die ein Bild malen, das den Einzelnen vor allem als abhängig und hilflos und ausgeliefert darstellt. Mir ist es z.B. passiert, dass mir vor nun schon einiger Zeit früher in der 5. Klasse von verschiedenen Lehrern eingetrichtert wurde, mein zukünftiges Leben würde mehr oder weniger davon abhängen, ob ich bis zum nächsten Tag nun meine Vokabeln gelernt hätte oder nicht. Dann gibt es Interessengruppen, die die Freiheit des einzelen vor allem stört: Lobbygruppen wollen ungestörten Einfluss auf die Politiker ausüben, Politiker wollen unbehelligt vom Wähler agieren und so weiter. Freiheit des Einzelnen gilt diesen Institutionen als Bedrohung.

Das Wissen darum ist in den USA äußerst stark verbreitet. Den Behörden und der Politik wird deshalb - trotz der hier häufig zu lesenden Bushomanie - vor allem eins entgegengebracht: Misstrauen. Freiheit und Staat - das wird in den USA häufig als Gegensatzpaar begriffen und dementsprechend ist es auch beständig ein öffentliches Kampffeld. Und so muss es sein.

In Deutschland regieren Parteien. Wortwörtlich. Nicht Personen. Von Merkel als von einer mächtigen Frau zu sprechen, ist irreführend. Merkel hat zwar formal die Macht, aber sie würde nie etwas tun, was gegen die Interessen der Führungsriege in den Parteien gerichtet ist. Sie ist nicht in erster Linie dem Volk, dem Bürger verantwortlich, sondern ihrer Partei. Die Bundestagsabgeordneten werden zum großen Teil durch Listenplätze in den Parteien bestimmt. Diese wiederum wählen dann den Bundeskanzler. Beim US-System sieht das alles schon ganz anders aus. Da gibt es zwar nur zwei Parteien, aber was für die Wähler zählt, sind die einzelnen Kandidaten, über die sie direkt abstimmen können. An diese Kandidaten kann man sich wenden. Die Verantwortlichkeiten sind in diesem Punkt klarer geregelt.

Hinzu kommt, dass es in Deutschland jenseits der Wahlen alle paar Jahre kaum Möglichkeiten gibt, aktiv selbst Politik z.B. durch Abstimmungen, wie sie häufig in der Schweiz zu diversen Themen stattfinden, zu gestalten oder eben durch direkte Ansprache an seinen Abgeordneten. Es gibt ihn zwar, diesen Abgeordneten, aber den interessiert eben mehr, was seine Partei will, als was der Wähler will. Und als Gipfel der Verantwortungslosigkeit muss man in Deutschland das System aus unterschiedlichen, sich gegenseitig die Verantwortung zuschiebenden kommunalen, Landes-, bundesweiten und europäischen Instanzen ansehen. Alle sind in zu großem Maße voneinander abhängig (z.B. was Finanzen, also Steuergelder, betrifft), Kompetenzen sind nicht klar aufgeteilt.

So kommt es dazu, dass die Politiker im Wahlkampf von mehr Geld für Bildung sprechen können, von besserer Familienpolitik, von klar ausgearbeiteten Konzepten um das Steuersystem einerseits gerecht und andererseits einfacher zu gestalten, von mehr Investitionen in die Forschung und von vielen weiteren klugen Projekten, ohne dass sie anschließend durchgesetzt werden müssen. Ja, es können sogar Gesetze erlassen werden, die nur Nachteile mit sich bringen und sich gegen den Bürger richten (Beispiel Vorratsdatenspeicherung oder beinahe die Einführung von Softwarepatenten).

Anspruch und Wirklichkeit klaffen also in Bezug auf die Möglichkeiten, seine Zukunft selbstbestimmt zu gestalten, stark auseinander. Politisch lässt sich nur schwer etwas bewegen und verändern, wirtschaftliche Eigeninitiative wird durch einen Wust an unübersichtlichen gesetzlichen Vorschriften brutal gebremst und ist man abhängig vom Wohlwollen eines Personalchefs, steht die gesamte Lebensführung auf dem Prüfstand beim Bewerbungsgespräch. Dazu kommt die Undurchlässigkeit im Ausbildungssystem. Und noch etliches anderes.

Fazit: Es gibt individual-psychologische, kulturelle, politische, wirtschaftliche und mediale Blockierer für ein möglichst autonom gelebtes Leben in Deutschland. Welcher dieser Blockierer den größten Einfluss hat oder von wem das Blockieren vor allem ausgeht... keine Ahnung.

Was ich sagen will: Diese Einschränkungen sind keine Einbildung. Sie werden so erlebt. Und darauf kommt es an. Besonders wirksam werden diese Befindlichkeiten in den Medien. Viele Geschichten funktionieren dort nur, wenn sie auf Resonanz beim Leser stoßen. Also können Medien auch blind sein. Handeln von Politikern, das andernorts vielleicht heftigen Protest auslösen würde, findet hier kaum ein mediales Echo. Wie ist das also z.B. mit dem Gebahren der Politiker und Geheimdienste in Bezug auf die BND-Affäre? Läuft da zur Zeit nicht ein Untersuchungsausschuss? Warum interessiert es so wenige, dass hier offen und wissentlich die Behörden die Bevölkerung belügt haben? Ein kleiner Spiegel-Artikel zum Thema (Wie die deutsche Politik trickst, tarnt und täuscht) stieß meines Wissens nach auf wenig Resonanz. Andere Medien griffen das Thema jedenfalls nicht auf. Ähnlich erging es Berichten vom WDR-Magazin Monitor über Lobbyisten, die direkt in den Ministerien mit eigenen Büros und Durchwahlnummer abseits von jeder gesellschaftlichen Kontrolle direkt an den Gesetzen mitschreiben: Profitabel - Wie die Industrie an Gesetzen mitstrickt.

Weitere Gedankenanstöße in diese Richtung findet man z.B. hier:

  • Nichts wie weg! (Telepolis). Rüdiger Suchsland zählt 75 Gründe auf, warum man Deutschland verlassen möchte könnte.
  • Su-Shee ergänzt die 75 Gründe durch ihre eigenen, ebenso schlüssigen Gründe.
  • Und schließlich ein interessanter Artikel in der Netzeitung, der darstellt, dass es neben der sogenannten "Unterschicht" auch noch eine andere gesellschaftliche Schicht gibt, die ausgegrenzt ist: Die herrschende, obere Schicht der "Meritokraten", die eben jegliche gesellschaftliche Solidarität vermissen lassen: Das Diktat der Meritokraten.

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