Freitag, 27. April 2007

Ein "Long Tail" anderer Art: Die lange Spur unserer Lebensdaten

Das Wired-Weblog "27B Stroke 6" berichtet, wie der 66-jährige kanadische Psychologe und Psychotherapeut Andrew Feldmar von der US-amerikanischen Grenzkontrolle herausgepickt wurde und ihm nach einer kurzen Online-Datenabfrage vom Grenzschützer verboten wurde, jemals wieder in die USA einreisen zu dürfen.

Feldmar reiste bisher mehrmals im Jahr in die USA, um dort seine Kinder zu besuchen.

Was hatte Feldmar verbrochen, dass er von nun an niemals mehr in die USA reisen darf? Er hatte vor 40 Jahren zu wissenschaftlichen Zwecken LSD an sich selbst ausprobiert. Menschen, die jedoch beispielsweise an gefährlichen Krankheiten leiden oder eben auch illegale Drogen zu sich genommen haben, wird jedoch neuerdings die Einreise in die USA verweigert.

Warum ich auf diese kleine, unwichtig erscheinende Story hinweise? Für sich genommen ist diese Geschichte sicherlich bedeutungslos für alle Menschen, die Herrn Feldmar nicht kennen. Ich kenne ihn übrigens auch nicht. Aber was da an der US-Grenze dem Herrn Feldmar passiert ist, erscheint mir wie ein Beispiel dafür, wohin all diese kleinen Aushöhlungen des Datenschutzes führen können, die auch hierzulande derzeit von den Politikern angestrebt werden.

Die kleine Geschichte zeigt beispielsweise, wie das, was wir als "anständig" ansehen, ständigen Wechseln und Umbrüchen unterworfen ist. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten kann die gesellschaftliche Mehrheit über ganz andere Dinge und Verhaltensweisen die Nase rümpfen als sie es heute tut.

Vor 40 Jahren erschien die Beschäftigung mit LSD in den USA als weniger problematisch als heute. Heute erlebt die USA, wie Drogen einen verheerenden Schaden anrichten in riesigen Teilen der Gesellschaft. Zwar nicht speziell LSD, aber eben andere Drogen wie beispielsweise "Meth". Die Abscheu breiter gesellschaftlicher Kreise gegen Drogen, die anscheinend mittlerweile so groß ist, dass selbst der kleinste Drogenkontakt eines Ausländers als Gefahr für die innere Sicherheit der USA gewertet wird, ist somit sogar nachvollziehbar. Es ist eben nicht einfach ein hysterischer Ausrutscher von verrückten Amerikanern, denen Herr Feldmar hier zum Opfer gefallen ist. Ein tragischer Einzelfall also, der so nur in den USA passieren könnte, bei den "verrückten" Amis halt. Nein, der gesellschaftliche Wandel, die Zunahme oder die Abnahme von Abscheu gegen bestimmtes Verhalten ist verstehbar und nachvollziehbar.

Wenn heute immer mehr Daten über das Verhalten der Bürger aufgezeichnet werden - und schlimmer noch: immer leichter zugänglich und verknüpfbar werden - dann birgt das jedoch die Gefahr, dass plötzlich solch eine surreale Situation zustande kommt, wie sie Herr Feldmar gerade erlebt hat. Wessen Daten also heute aussagen, dass er "anständig" ist, kann morgen eine Überraschung erleben, weil dann ganz andere Maßstäbe an die selben Daten gelegt werden könnten. Das Erfassen von Unmengen von Daten über uns und deren schnelle Auswertung und der unkomplizierte Zugriff auf diese Daten durch jeden kleinen Beamten oder gar der Missbrauch durch Datendiebstahl, macht uns zu Sklaven dieser Daten und zu Sklaven der jeweils herrschenden Mehrheits-Meinung darüber, was "anständig" ist und was nicht. Durch die Datenberge und ihre leichte Zugänglichkeit und leichte Auswertbarkeit zählt nicht mehr nur das Verhalten, das wir heute an den Tag legen, sondern es kann plötzlich unser gesamtes Verhalten aus unserem gesamten Leben zählen. Wegen der umfangreichen Datenspeicherung kann eines Tages und ohne dass wir es heute auch nur im Entferntesten ahnen, irgendeine unserer vergangenen Handlungen, die vormals unverdächtig waren, plötzlich zu Verdächtigungen gegen uns oder sogar zu umfangreichen Restriktionsmaßnahmen gegen uns führen. Ich vermute, dass Feldmar vor 40 Jahren nicht ahnte, dass seine harmlosen LSD-Selbstversuche eines Tages dazu führen könnten, dass er seine Kinder nicht mehr besuchen darf.

Wer heute also keine Probleme mit der Speicherung seiner Daten hat ("Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten"), der verkennt, dass dies immer davon abhängt, was gerade als dieses Nichts, was er "nicht zu verbergen" braucht, angesehen wird. Dieses "Nichts" verändert sich jedoch. Das zeigt die Geschichte unzweifelhaft. Keiner kann sich somit sicher sein, dass nicht sein jetziges "Nichts" irgendwann doch interessant werden könnte für Sicherheitsbehörden, einfach weil man plötzlich andere Maßstäbe anlegt.

Wie unsicher und wechselhaft die Mehrheitsmeinung im Volk ist über das, was "anständig" ist, und wie schnell die Politiker durch neue Vorschriften auf diese Mehrheitsmeinung eingehen, das wird ja gerade auch durch den neurdings herrschenden Boom an neuen Überwachungsvorschlägen deutlich: Vor zwanzig Jahren wäre so etwas gesellschaftlich nicht durchsetzbar gewesen, was Schäuble heute an neuen Befugnissen für die Sicherheitsbehörden fordert. Heute jedoch verschaffen ihm genau solche Vorschläge eine steigende Popularität in großen Teilen der Gesellschaft.

Die Beurteilung von Verhaltensweisen und die Ansicht, ob man bestimmtes Verhalten gesellschaftlich ächten muss, verändert sich ständig innerhalb der Gesellschaft:

  • Sind Männer, die gerne mit kleinen Kindern spielen, gefährlich?
  • Sind Menschen, die von einem Einkommen leben, dessen Quelle nicht sofort ersichtlich ist, gefährlich?
  • Sind Menschen, die im Ausland leben, aber Einfluss auf heimische Medien ausüben, gefährlich?
  • Sind Menschen, die in ein Land reisten, das damals unverdächtig war, aber heute als verdächtig gilt, gefährlich (Beispiel: Kurnaz)?
  • Sind Nutzer obskurer Internet-Foren gefährlich?
  • Sind Menschen, die bestimmte Computerspiele spielen, gefährlich?
  • Sind unzufriedene Schüler gefährlich?
  • Sind Raucher gefährlich?
  • Sind Übergewichtige gefährlich?
Und so weiter.

Auf viele der obigen Fragen kann jeder sofort mit einem klaren "Ja", "Vielleicht" oder "Nein" antworten. Aber antwortet man heute auf die Fragen exakt genauso wie vor zehn Jahren? Zur Erinnerung: Vor ungefähr zehn Jahren gab es etliche Gerichtsverfahren gegen Männer, die als Erzieher in Kindergärten arbeiteten, weil sie angeblich dutzende der ihnen anbefohlenen Kinder missbraucht haben sollen. Es gab eine Welle an Verdächtigungen gegen männliche Erzieher. Heute hört man davon nichts mehr. Welche möglichen Überwachungs-Maßnahmen hält man heute für oben genanntes, mögliches "verdächtiges" Verhalten als angemessen, welche hielt man früher für angemessen? Ist es nicht denkbar, dass man morgen wiederum ganz andere Überwachungs-Maßnahmen bei heute völlig unverdächtigen Verhaltensweisen für angemessen hält?

Unkonroliertes Datensammeln und unkontrollierter Datenzugriff und unkontrollierte Datenauswertung können also sehr schnell - und aus der "besten Absicht" heraus - urplötzlich zu einem Instrument der Repression werden, einfach weil es diesen Machtzuwachs in Form des Zugriffs auf Unmengen von Daten gibt und sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, ohne dass der Einzelne Einfluss hat auf die veränderte gesellschaftliche Meinung. Und seine gespeicherten Daten oder sein vergangenes Verhalten kann der Einzelne auch nicht mehr ändern. Wer will seine Hand dafür ins Feuer legen, dass sein heutiges Verhalten und seine heutigen Ansichten auch noch in fünfzig Jahren in allen Details dem gesellschaftlichen Mainstream entsprechen?

Eine Gesellschaft, die jedoch nur die Freiheitsrechte derjenigen unvoreingenommen schützt, die zufällig gerade heute mit ihrem Verhalten zum Mainstream gehören, ist keine freie Gesellschaft mehr. Erst recht nicht auf lange Sicht, wenn der Mainstream sich ständig verändert. Wenn Politiker also als Argument für mehr Überwachung anführen, dass ja jeder, der "anständig" ist, nichts zu befürchten hat, so ist dies eigentlich eine Drohung.

Daten haben in sich eine mächtige Dynamik, eine große Macht steckt in ihnen. Diese Macht ist jedoch leider nicht so sichtbar wie eine Bombe in einem Zugabteil und deswegen wird sie vom ungebildeten Volk unterschätzt.

Außerdem ist die Frage nach der Kontrolle dieser Daten im Zeitalter der digitalen Information enorm kompliziert. Darüber müsste viel intensiver diskutiert werden: Wie schützt man Daten vor Missbrauch? Welche technologischen Mittel werden für den Missbrauchsschutz eingesetzt? Welche organisatorischen Hemmnisse werden eingebaut, um den Missbrauch zu verhindern? Welche Fortbildungen müssen Leute absolvieren, die mit Daten umgehen? Welche Verhaltensregeln gelten? Wie kompetent sind die Leute, die den Gebrauch der Daten überwachen?

All dies wird nicht diskutiert in Deutschland. Stattdessen reißt die Politik immer mehr Datenschutzwälle ein. Man stelle sich vor, der Verkehrsminister würde fordern, die Regeln für die Flugsicherheit zu straffen, zu vereinfachen, einzustampfen, nur damit der Flugbetrieb schneller und effizienter funktioniert.

Wir schlittern dank dieser bescheuerten und ignoranten Politik auf eine Vielzahl von "Datenunfällen" zu. Genau davor warnen schon lange und immer lauter die professionellen Datenschützer. Aber die Politik hält dagegen und sieht im Datenschutz die Gefahr. So äußerte Beckstein vor kurzem, dass "Datenschutz nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürfe". Es ist schlicht unglaublich.

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